Weimar-Urteil belastet auch Merkel-Regierung: Pandemie-Fakten seit Anfang 2020 bekannt

Symbolbild: Hammer aus freepik, @Racool_studio; Merkel: pixabay, JonasSchmidt1989

Entspricht es den Tatsachen, dass den Regierenden kein Vorwurf für die Verhängung eines Lockdowns Ende März 2020 zu machen ist? Denn zum damaligen Zeitpunkt wäre noch zu wenig über das neue Virus und den Verlauf der Corona-Pandemie bekannt gewesen. War wirklich eine drohende Überlastung des Gesundheitswesens anzunehmen? Zahlreiche Kritiker betonten, dass man um die tatsächlichen Umstände nicht nur hätte wissen können, sondern sogar wissen müssen. Diese Ansicht wurde im Urteil eines Weimarer Amtsrichters bestätigt.

Von Siri Sanning

In seinem Urteil vom 15. März 2021 begründet er detailliert, welche Verfehlungen der Verordnungsgeber hinsichtlich seiner Entscheidungsfindung bereits zu Beginn der „Pandemie“ beging. Auch mit dem damals bereits verfügbaren Wissen war erkennbar, dass keine epidemische Lage nationaler Tragweite gegeben und das Gesundheitssystem sehr weit von einer Überlastung entfernt war. Aus diesem Grund, so sein Fazit, waren Maßnahmen, die eine solche Überlastung verhindern sollten, nicht gerechtfertigt.

Richter, Wissenschaftler und Bundestagskandiaten Ziel staatlicher Repressionen

Seit diesem Urteil wurde sich in Deutschland noch weiter von der Demokratie entfernt, der Weg Richtung Diktatur noch offensichtlicher beschritten. Nicht nur ist es inzwischen möglich, Grundrechtseinschränkungen auch abseits eines Ausnahmezustands bzw. einer epidemischen Lage nationaler Tragweite fortbestehen zu lassen; werden Sitzungsprotokolle, welche die Ahnungslosigkeit von Kanzlerin Merkel bei grundlegenden Parametern der „Pandemie“ belegen, nachträglich gefälscht; empfängt besagte Kanzlerin ausgerechnet jene Richter, welche über die von einer Oppositionspartei gegen sie angestrengte Klage entscheiden, vor der Verhandlung zum gemeinsamen Abendessen.

Inzwischen wird auch offen gegen Richter, Gutachter und Mitglieder anderer Parteien vorgegangen, welche abseits des von der Regierung gewünschten Kurses stehen. Wurde zunächst Familienrichter Dettmar, welcher in Weimar zugunsten von Kindeswohl und gegen staatlich verordnete Maßnahmen an Schulen entschied, Opfer von Hausdurchsuchung und Beschlagnahmung, ereilte ihn wenig später das selbe Schicksal noch einmal – diesmal gleichzeitig mit Wissenschaftlern, Bundestagskandidaten der Partei diebasis und einem Weimarer Richterkollegen. Report24.news berichtete (Diktatur vollendet: Durchsuchungen bei 8 prominenten Maßnahmenkritikern).

Lesen Sie im Zusammenhang auch eine aktuelle Analyse der Geschehnisse in Deutschland und global von Rechtsanwalt Dr. Reiner Fuellmich: Anwalt Fuellmich: „Drostens PCR-Lüge nachweisbar“, Pandemie-Konstrukt wird fallen

Kontaktverbot ist keine vertretbare Entscheidung

Gegenstand des Verfahrens war ein Verstoß gegen das Kontaktverbot. Ein Mann hatte sich im April 2020 mit seinem Sohn, seiner Lebensgefährtin und seinem Stiefsohn in einem Garten getroffen. Da die vier Personen in vier unterschiedlichen Haushalten wohnten, wurde gegen den Mann ein Bussgeld auf Basis von § 3 Abs.1 ThürSARS-CoV-2-EindmaßnVO verhängt. Er wurde freigesprochen.

Hätte der Verordnungsgeber, so die Begründung, bei Aufwendung der von ihm zu erwartenden Sorgfaltspflicht die zum damaligen Zeitpunkt verfügbaren Erkenntnisquellen entsprechend ausgewertet und eine „sachgerechte und vertretbare Beurteilung des erreichbaren Materials“ vorgenommen, wäre er unabweisbar zu dem Schluss gekommen, dass „eine Überlastung des Gesundheitssystems aktuell und in nächster Zukunft nicht drohte und somit keine weiteren Maßnahmen ergriffen werden mussten, um eine solche Überlastung zu verhindern.“ Die Frage, ob ein Kontaktverbot ein angemessenes Mittel zur Erreichung dieses Zieles – der Verhinderung der Überlastung des Gesundheitssystems – ist, hätte sich dementsprechend gar nicht gestellt. Für den Richter, der bereits mit einem anderen aufsehenerregenden Urteil von sich reden machte, ist somit die Anordnung eines Kontaktverbots „keine vertretbare Entscheidung.“

Urteil ohne mediale Beachtung

In den Medien fand dieses Urteil trotz seiner umfassenden und akribischen Herangehensweise an eine so einschneidende Begebenheit, den Lockdown, kaum Beachtung. Einen Artikel von Tichys Einblick dazu finden Sie hier: „Urteil aus Weimar: Lockdown im März 2020 war keine ´vertretbare Entscheidung´“.

Zum Urteil mit dem Aktenzeichen 6 OWi 583 Js 20030/21 vom 15. März 2021 gelangen Sie durch Klick auf die rote Textstelle. Im Folgenden werden Auszüge daraus im Wortlaut wiedergegeben (Hervorhebungen durch den Autor, Links durch die Redaktion zur Online-Verwendung umgearbeitet).

All das war Anfang 2020 bereits bekannt:
Das Urteil in Auszügen

Verfassungswidrig, die Menschenwürde verletzend, unverhältnismäßig

19) 2. Der Betroffene war aus rechtlichen Gründen freizusprechen, weil es keinen Bußgeldtatbestand zur Ahndung eines Verstoßes gegen § 3 Abs. 1 ThürSARS-CoV-2-EindmaßnVO gab (III.) und weil die Norm verfassungswidrig und damit nichtig war. § 3 Abs. 1 ThürSARS-CoV-2-EindmaßnVO war verfassungswidrig, weil die Verordnung nicht von einem ordnungsgemäß ermächtigten Verordnungsgeber erlassen wurde (IV.), die Norm gegen das Wesentlichkeitsprinzip bzw. den Parlamentsvorbehalt verstieß (V.), die Menschenwürdegarantie aus Art. 1 Abs. 1 GG verletzte (VI.) und (hilfsweise) jedenfalls ein Verstoß gegendas Verhältnismäßigkeitsprinzip vorlag (VII.).

26) § 3 Abs. 1 ThürSARS-CoV-2-EindmaßnVO ist weiterhin aus formellen Gründen verfassungswidrig, weil die gesetzliche Ermächtigungsgrundlage (§ 28 Abs. 1 Satz 2 i. V. m. § 32 Satz 1 IfSG) hinsichtlich der Regelung eines allgemeinen Ansammlungs- bzw. Kontaktverbotes nicht den Anforderungen des Parlamentsvorbehalts bzw. der Wesentlichkeitsdoktrin genügt.

Keine epidemische Lage nationaler Tragweite

29) Vorliegend ist der maßgebliche Zeitpunkt für die Beurteilung der 26.03.2020. Auch zu diesem Zeitpunkt war mit dem damals verfügbaren Wissen bereits erkennbar, dass keine epidemische Lage nationaler Tragweite bestand.

Kernbereich privater Lebensgestaltung

31) Das für den öffentlichen und privaten Raum geltende Ansammlungsverbot bzw. allgemeine Kontaktverbot verletzt die in Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Menschenwürde. Das Gericht hält auch insoweit an der im Urteil vom 11.01.2021 geäußerten Rechtsauffassung fest, dass die Bewertung des allgemeinen Kontaktverbotes lediglich als Eingriff in die Allgemeine Handlungsfreiheit gem. Art. 2 Abs. 1 GG der Schwere des Eingriffs nicht gerecht wird (AG Weimar, aaO, Rn. 31-38). Mit der Regelung, dass Ansammlungen bzw. der Aufenthalt im öffentlichen und privaten Raum nur noch allein, mit einer weiteren haushaltsfremden Person oder im Kreis der Angehörigen des eigenen Haushalts gestattet ist, die unabhängig davon gilt, ob der oder die Betreffende mit SARS-CoV-2 infiziert und ansteckend oder auch nur ansteckungsverdächtig ist, wird in den Kernbereich privater Lebensgestaltung eingegriffen (vgl. zum Schutz eines Kernbereichs privater Lebensgestaltung durch die Menschenwürdegarantie Maunz/Dürig/Herdegen, GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 90f; BeckOK GG, Epping/Hillgruber, Art. 1 Rn. 27) und ein zum Menschen als sozialem und physischen Wesen essentiell gehörendes Verhalten – der unmittelbare, nicht durch digitale oder andere Medien vermittelte Kontakt und die persönliche Begegnung mit anderen Menschen – einem so weitreichenden Verbot unterworfen, dass, auch unter Berücksichtigung der Ausnahmen in § 3 Abs. 2 bis 4 bzw. § 2 Abs. 2 der Verordnung, gerade noch ein absolutes Minimum an physischen Sozialkontakten erlaubt bleibt. Mit diesem tiefen Grundrechtseingriff, der weder im Nationalen Pandemieplan, noch in den Pandemieplänen der Länder vorgesehen war (s.u. VII. d) und bis März 2020 in Deutschland nie als Mittel des Infektionsschutzes in Erwägung gezogen, sondern erst zu einer realen Option wurde, nachdem China in Wuhan mit einem Lockdown von großer Härte auf das Auftreten des SARS-CoV-2-Virus reagiert und Italien diese Lockdown-Politik „importiert“ hatte, wird ein zuvor als unumstößlich geltendes Tabu staatlichen Handelns verletzt. Diese Tabuverletzung wird übersprungen, wenn nur die Frage gestellt wird, ob dieses staatliche Eingriffshandeln (noch) verhältnismäßig ist (Art. 2 Abs. 1 GG), weil dann das Eingriffshandeln jedenfalls als grundsätzlich legitim betrachtet wird.

Kontaktverbot auch nicht ausnahmsweise menschenwürdekonform

32) Das allgemeine Kontaktverbot ist auch im Hinblick auf den mit ihm verfolgten Zweck (vgl. zur Bedeutung der Finalität Maunz/Dürig/Herdegen, GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 47; AG Weimar, aaO, Rn. 32) der Verhinderung einer Überlastung des Gesundheitssystems nicht ausnahmsweise menschenwürdekonform. Dies käme nach Auffassung des Gerichts allenfalls dann in Betracht, wenn feststünde oder aus Sicht des eingreifenden Staates bei einer evidenzbasierten Beurteilung zumindest sehr wahrscheinlich wäre, dass nur unter Einsatz dieses (im Unterschied zu anderen Maßnahmen in den Kernbereich privater Lebensgestaltung eingreifenden) Mittels und nicht allein mit den bekannten, in den Pandemieplänen beschriebenen infektionshygienischen Maßnahmen (Isolierung Erkrankter, Schließung von Gemeinschaftseinrichtungen, Verbot von Großveranstaltungen etc.), zu denen auch die Information der Bevölkerung und Aufrufe zu freiwilliger (!) Kontaktreduzierung gehören, eine flächendeckende Überlastung des Gesundheitssystems abgewendet werden könnte. Diese Voraussetzung war aber vorliegend nicht gegeben. Auch der Verordnungsgeber wird nicht in Abrede stellen, dass bei der Anordnung des Kontaktverbotes hinsichtlich Wirksamkeit und Erforderlichkeit nur auf Verdacht gehandelt wurde.

Verordnungsgeber hätte wissen können und müssen.

34) An dieser Stelle soll die Argumentation für eine kurze Erläuterung unterbrochen werden. Die nachfolgende Verhältnismäßigkeitsprüfung (bei der es sich, wie schon erwähnt, um ein hilfsweises Argument, nicht um ein obiter dictum handelt) wäre unter Effizienzgesichtspunkten sicher nicht erforderlich. Danach hätte die Urteilsbegründung sogar bereits nach den Abschnitten III. und IV. beendet werden können, da schon diese Argumente kaum angreifbar erscheinen. Allerdings erscheint die Frage der Verhältnismäßigkeit der Verhängung eines Ansammlungs-/Kontaktverbotes und des damit verbundenen Lockdowns zum Zeitpunkt Ende März 2020 von besonderem Interesse, da nicht selten zu hören ist, dass jedenfalls die Verhängung des Lockdowns im März 2020 durch den/die Verordnungsgeber vertretbar gewesen sei, weil man zum damaligen Zeitpunkt noch so wenig über das Virus und den Verlauf der Pandemie gewusst habe und die Prognosen einer drohenden massiven Überlastung des Gesundheitswesens mit katastrophalen Folgen nicht von der Hand zu weisen gewesen seien. Dabei scheint diese These ihrerseits oft nur zu verdecken, dass ihre Vertreter auch jetzt nicht wissen, was man im März 2020 hätte wissen können und als Verordnungsgeber hätte wissen müssen, bevor über den Lockdown entschieden wurde. Diese Frage ist keinesfalls nur von historischem Interesse, da sich Situationen wie im März 2020 ohne weiteres in der Zukunft wiederholen können und sich dann erneut die Frage stellen kann, ob und auf welcher Entscheidungsgrundlage die Exekutive das öffentliche Leben stilllegen kann. Dies erscheint auch deshalb umso wichtiger, als die Erfahrung der letzten 13 Monate zeigt, dass der Weg in eine Lockdown-Politik hinein wesentlich leichter ist als der Weg aus der Lockdown-Politik heraus – um es zurückhaltend zu formulieren. Daher soll an dieser Stelle auch die Frage der Verhältnismäßigkeit des allgemeinen Kontaktverbotes (und des Lockdowns) zum Zeitpunkt des Erlasses der Verordnung erörtert werden.

Gericht prüft selbst

37) Ist eine in Einzelheiten überprüfbare Verhältnismäßigkeitsprüfung dagegen nicht bekannt, weil sie entweder nicht schriftlich niedergelegt wurde oder gar nicht stattgefunden hat, bleibt dem Gericht kaum etwas anderes übrig, als in einem ersten Schritt auf der Grundlage des ex ante verfügbaren Wissens die Verhältnismäßigkeit am Maßstab eigener Einschätzungen und Bewertungen zu prüfen.

Datenlage eindeutig, Schluss zwingend

38) b) Sofern bestimmte Tatsachen und Daten (hier: die referierten Daten des RKI) einen bestimmten Schluss (hier: es drohte keine Überlastung des Gesundheitssystems) nicht nur nahelegen, sondern erzwingen, ist es nicht erforderlich, sämtliche gegenteiligen Hinweise und Quellen zu ermitteln und heranzuziehen (so aber BayVGH, Beschluss vom 24.01.2021 – 10 Cs 21.249 – hier abrufbar, S. 15). Es kommt nur darauf an, ob die Tatsachen zutreffen, die Daten stimmen und der Schluss tatsächlich zwingend ist. Insofern hat das Gericht im Urteil vom 11.01.2021 eine „Abkürzung“ gewählt, als es sich darauf beschränkt hat, die aus seiner Sicht zwingenden Argumente gegen die Annahme einer drohenden Überlastung des Gesundheitssystems bzw. einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite zu referieren und im Anschluss nur noch die Frage zu beantworten, ob der Verordnungsgeber diese Argumente unter Berücksichtigung seines Einschätzungsspielraums erkennen und berücksichtigen musste. Im Folgenden soll dagegen möglichst umfassend dargelegt werden, welches Wissen für den Verordnungsgeber zum Zeitpunkt des Verordnungserlasses verfügbar war und von ihm bei seiner Entscheidung hätte berücksichtigt werden müssen.

Keine Erkenntnisquellen

45) 4. Um zu überprüfen, welche Erkenntnisquellen der Verordnungsgeber genutzt hat und zu welchen Beurteilungen er gelangt ist, hat das Gericht die Verwaltungsakte zu der Verordnung vom 26.03.2020 vom Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie angefordert und in Kopie erhalten. Diese Akte beinhaltet die unterzeichnete Verordnung, die dazugehörige amtliche Begründung, eine Kopie der Veröffentlichung im Gesetz- und Verordnungsblatt vom 31.03.2021 und eine Medieninformation vom 26.03.2020. Es handelt sich danach um eine reine Ergebnisdokumentation. Welche Erkenntnisquellen bei der Erarbeitung der Verordnung herangezogen wurden, von welcher konkreten Gefährdung für die Gesundheit der Bevölkerung und für das Gesundheitssystem ausgegangen wurde, ob, und wenn ja, welche Überlegungen zur Wirksamkeit einzelner Maßnahmen angestellt wurden, ob unmittelbare Schäden und Kollateralschäden der Maßnahmen abgeschätzt wurden und wie die einzelnen Belange im Rahmen der Abwägung gewichtet wurden, ist dagegen nicht dokumentiert. Dies ist mindestens ungewöhnlich (In Bayern wurde in einem Verfahren von der Landesregierung sogar mitgeteilt, dass gar keine Behördenakte zu einer Corona-Verordnung angelegt worden sei, vgl. dazu Süddeutsche Zeitung: Aktenzeichen XY unbekannt und Staatsregierung: Keine Akten zu Corona-Beschlüssen). An schriftlichen Dokumenten bleibt daher allein die amtliche Begründung, um etwas über die Erwägungen des Verordnungsgebers zu erfahren. Relevant sind insoweit die ersten beiden Absätze:

46) „Das neuartige Coronavirus SARS-CoV-2 stellt die gesamte Gesellschaft und das Gesundheitssystem vor enorme Herausforderungen. Es besteht weltweit, deutschland- und thüringenweit eine sehr dynamische und ernstzunehmende Situation mit starker Zunahme der Fallzahlen innerhalb weniger Tage. Die Weltgesundheitsorganisation hat die Ausbreitung des Virus und die dadurch hervorgerufenen (sic!) Erkrankung COVID-19 am 11. März 2020 als Pandemie eingestuft.

47) Die Gefährdung für die Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland wird derzeit insgesamt als hoch eingeschätzt. COVID-19 ist sehr infektiös. Besonders ältere Menschen und solche mit vorbestehenden Grunderkrankungen sind von schweren Krankheitsverläufen betroffen und können an der Krankheit sterben. Da derzeit weder eine Impfung noch eine spezifische Therapie zur Verfügung stehen, müssen alle Maßnahmen ergriffen werden, um die weitere Ausbreitung des Virus zu verzögern. Ziel ist es, durch eine Verlangsamung des Infektionsgeschehens die Belastung für das Gesundheitswesen insgesamt zu reduzieren, Belastungsspitzen zu vermeiden und die medizinische Versorgung sicherzustellen. Die Landesregierung und die Gesundheitsbehörden haben dazu bereits zahlreiche Maßnahmen eingeleitet.“

48) Aus dieser Begründung ergibt sich, dass das Ziel der Maßnahmen die Verhinderung einer Überlastung des Gesundheitssystems war. Näheres zur Gefahreneinschätzung, Überlegungen zur Wirksamkeit der Maßnahmen und eine Abwägung von mutmaßlichem Nutzen und Kosten ist der Begründung nicht zu entnehmen. Die Formulierung, dass „alle Maßnahmen ergriffen werden“ müssen, spricht vielmehr dafür, dass nähere Erwägungen zur Verhältnismäßigkeit nicht für erforderlich gehalten wurden.

50) 5. Die vom Verordnungsgeber zu klärenden Fragen betreffen zunächst die Einschätzung der Gefahrenlage („Gefahrenprognose“), daran anschließend ggf. die Frage nach geeigneten und erforderlichen Mitteln zur Gefahrenabwehr (die sog. „Maßnahmen“) und schließlich die Angemessenheit des Einsatzes der einzelnen Maßnahmen und der Maßnahmen im Ganzen.

51) Die Erkenntnisquellen, die dem Verordnungsgeber zur Beantwortung der Frage nach der Gefahrenlage zugänglich waren, lassen sich dabei unterteilen in (a) empirische Daten, (b) Modellierungsstudien und (c) mündliche Äußerungen und Stellungnahmen von Experten.

Fallzahlen“ sind Meldezahlen positiver PCR-Tests; keine Meldepflicht; keine Gesamtzahl bekannt

52) aa) Die maßgebliche Grundlage für die „Maßnahmen“ waren im März 2020 (und sind es bis heute unter der Bezeichnung Inzidenzzahlen) die sog. Corona-Fallzahlen. Dabei handelt es sich um die Meldezahlen der positiven PCR-Tests. Die „Zunahme der Fallzahlen“ wird auch in der amtlichen Begründung der Verordnung als Hinweis auf „eine sehr dynamische und ernstzunehmende Situation“ gewertet. Getestet werden sollten im März 2020 nach den Vorgaben des Robert Koch-Instituts nur Menschen, die respiratorische Symptome zeigten und entweder Kontakt zu einem bestätigten COVID-19-Fall hatten oder in der Pflege, einer Arztpraxis oder im Krankenhaus tätig waren oder einer Risikogruppe zugehörten. Außerdem sollte bis zum 24.03.2020, als diese Bedingung aufgegeben wurde, eine Testung nur erfolgen, wenn sich der Betreffende in einem Risikogebiet aufgehalten hatte (vgl. hier). Schon allein aufgrund dieser restriktiven Voraussetzungen ergibt sich, dass es eine erhebliche Dunkelziffer nicht gefundener Fälle geben musste, was auch allgemein bekannt war. (Laut einem Artikel der Tagesschau vom 19.03.2020 schätzte das RKI die Zahl der tatsächlichen Fälle etwa vier- bis elfmal höher als die registrierten.) Daher war auch offenkundig, dass die Zahl der Positivtests steigen musste, je mehr getestet wurde, so dass aus einer Zunahme der Positivtests kein Schluss auf die Entwicklung des Infektionsgeschehens gezogen werden konnte, solange man nicht zumindest wusste, wie viele Tests insgesamt durchgeführt wurden. Der Verordnungsgeber hätte sich daher, um die Testpositivzahlen überhaupt einordnen zu können, um Informationen zur Zahl der durchgeführten Tests bemühen müssen, zumal auch der Präsident des Robert Koch-Instituts Lothar Wieler in der Pressekonferenz vom 23.03.2020 erklärt hatte, dass die Testkapazität kontinuierlich erhöht werde (Video, bei 14:12 min). Die Zahl der durchgeführten Tests wurde vom RKI, wie bereits erwähnt, erst am 26.03.2020 erstmals veröffentlicht (Situationsberichte, RKI, S. 6). Auf eine Anfrage des Online-Magazins Multipolar vom 23.03.2020 an das Robert Koch-Institut und das Bundesgesundheitsministeriums antwortete das Bundesgesundheitsministerium, dass es keine Meldepflicht für Tests gäbe, weshalb dem Ministerium die Gesamtzahl aller in Deutschland vorgenommenen Tests nicht vorliegen würde.

Keine empirische Grundlage für behauptetes exponentielles Wachstum

53) Im Hinblick auf die Antwort des RKI auf die Anfrage des Onlinemagazins Multipolar ist vollkommen unerklärlich, dass RKI-Präsident Wieler am 18.03.2020 im Pressebriefing erklärt hatte: „Wir haben ein exponentielles Wachstum. Um das klarzumachen: Wir sind am Anfang einer Epidemie, die noch viele Wochen und Monate in unserm Land unterwegs sein wird.“ (Video, bei 2:11 min). Dass er damit eine drohende nationale Katastrophe meinte, wurde zwei Tage später, am 20.03.2020, deutlich, als Wieler erklärte er: „Wir alle sind in einer Krise, deren Ausmaß ich mir nie hätte vorstellen können.“.

54) Diese Äußerungen hatten keine empirische Grundlage. Als Wissenschaftler und als Präsident der Bundesoberbehörde, die maßgeblich zur Einschätzung epidemischer Risiken berufen ist (§ 4 IfSG), hätte Wieler – sofern das RKI tatsächlich die wenige Tage später Multipolar empfohlene Nachfrage bei der Kassenärztlichen Bundesvereinigung selbst nicht durchgeführt und deshalb nicht einmal ungefähre Angaben zur Entwicklung der Testzahlen hatte – nicht mehr sagen können, als dass es aktuell einen starken Anstieg der Positivtests gebe, man dies aber noch nicht einordnen könne, da dafür zumindest die Gesamtzahl der Tests bekannt sein müsste, was gegenwärtig noch nicht der Fall sei.

55) Es gehört wohl nicht viel Spekulation zu der Annahme, dass die Bundeskanzlerin und die Ministerpräsidenten am 22.03.2020 kein allgemeines Kontaktverbot und keinen Lockdown beschlossen hätten, wenn Wieler sich in dieser Weise geäußert hätte.

Wie verlässlich ist das RKI?

56) Da diese durch empirische Daten nicht gedeckten Äußerungen Wielers auch in der Folge vom RKI nie korrigiert wurden, stellen sich bereits an dieser Stelle Fragen nach der Verlässlichkeit der fortlaufenden Risikoeinschätzungen des RKI. Wenn von den Verwaltungs- und Verfassungsgerichten wiederholt in Verfahren betreffend Corona-Verordnungen festgestellt wurde, es bestünden keine Anhaltspunkte, dass die Einschätzungen des RKI fehlerhaft seien (für alle ThürVerfGH, aaO, Rn. 436), weshalb auch nicht zu beanstanden sei, dass die Verordnungsgeber sich auf die Risikoeinschätzung des Robert Koch-Instituts stützten, ist daher darauf hinzuweisen, dass der RKI-Präsident schon am 18. und 20.03.2020 mit seinen Äußerungen diese Anhaltspunkte geliefert hat.

Keine Sachkunde notwendig, um zu erkennen

57) Dass die Fallzahlen allein keineswegs einen Schluss auf ein (exponentielles oder auch nur lineares) Wachstum der Neuinfektionen in der 11. oder 12. Kalenderwoche zuließen und der RKI-Präsident seine Behauptung des exponentiellen Wachstums auch gar nicht begründete, sondern sich lediglich auf die steigenden Fallzahlen bezog, hätte auch der Verordnungsgeber ohne weiteres erkennen können und müssen, weil dafür keine Sachkunde zu infektiologischen und epidemiologischen Sachverhalten erforderlich war (a. A. BayVGH, Beschluss vom 24.01.2021 – 10 CS 21.249; vgl. auch OVG Thüringen, Beschluss vom 28.01.2021 – 3 EN 22/21 – juris, Rn. 60 und Beschluss vom 02.02.2021 – 3 EN 21/21 – juris, Rn. 61).

Influenza Wochenberichte im etablierten Beobachtungssystem

58) bb) Zu den dem Verordnungsgeber verfügbaren empirischen Daten gehören auch die Influenza-Wochenberichte der Arbeitsgemeinschaft Influenza (AGI) beim RKI. In diesen Berichten werden aktuelle Daten zum Zirkulieren von Atemwegserkrankungen in der Bevölkerung, die in verschiedenen, seit Jahren etablierten Surveillance- (Beobachtungs-) Systemen erhoben werden, veröffentlicht. In der virologischen Surveillance werden dabei im Nationalen Referenzlabor von Arztpraxen (sog. Sentinelpraxen) eingesandte sog. Sentinelproben auf respiratorische Viren untersucht. Seit der 9. Kalenderwoche wurde diese Untersuchung auch auf SARS-CoV-2 ausgedehnt. RKI-Vizepräsident Lars Schaade teilte dies in einer Pressekonferenz vom 12.03.2020 mit und erklärte dazu: „Wir ziehen damit praktisch eine Stichprobe aus der Bevölkerung von Menschen mit Atemwegsinfektionen, um zu schauen, inwieweit sich das neue Virus in der Bevölkerung schon verbreitet hat.“

SARS-CoV-2 nur an der Nachweisgrenze

63) SARS-CoV-2 bewegte sich damit in den Sentinelproben der AGI bis zur 12. Kalenderwoche praktisch an der Nachweisgrenze (dies änderte sich auch in den Folgewochen nicht: 13. KW: zweimal SARS-CoV-2, 14. KW: einmal SARS-CoV-2 in den Proben).

64) Am 25.03.2020 wurden erstmals Daten aus dem Influenza-Wochenbericht auch im Täglichen Lagebericht zu COVID-19 veröffentlicht. Sofern der Verordnungsgeber bis dahin die Influenza-Wochenberichte nicht verfolgt hätte (was nach Auffassung des Gerichts jedenfalls aufgrund der Pressekonferenz des RKI-Vizepräsidenten vom 12.03.2020 von erwartet werden konnte), wäre er somit spätestens an diesem Tag darauf gestoßen (angesichts der unsicheren Beurteilung der Situation und der gravierenden Entscheidungen, die getroffen wurden bzw. noch getroffen werden sollten, musste er die Lageberichte auch täglich auswerten). Der Lagebericht vom 25.03.2020 enthält außerdem die Information, dass die Rate Influenza-ähnlicher Erkrankungen (ILI-Rate), zu denen auch COVID-19 zählt, nach den Daten des GrippeWeb in der 12. KW 2020 im Vergleich zur Vorwoche deutlich zurückgegangen war.

65)
cc) In den Lageberichten des Robert Koch-Instituts befand sich seit dem allerersten vom 04.03.2020 täglich eine Grafik zum Erkrankungsbeginn, bei der die gemeldeten Positivtests in zeitlicher Reihenfolge nach – soweit bekannt – Erkrankungsbeginn und – soweit unbekannt – nach dem Meldedatum, das ist das Datum, an dem das Gesundheitsamt (nicht das RKI) Kenntnis über den Fall erlangt und ihn elektronisch erfasst hat, geordnet wurden. Sofern kein Datum des Erkrankungsbeginns bekannt ist, kann dies laut der Erläuterung der Grafik im Bericht auch daran liegen, dass es sich um symptomlose Fälle handelte.

Kein exponentieller Anstieg; Höhepunkt der Neuerkrankungen am 25.3.2020 überschritten

66)
Anfangs war diese Grafik aufgrund der geringen Test- bzw. Fallzahlen noch wenig aussagekräftig, dies änderte sich aber mit zunehmenden Fallzahlen, wobei die Daten für die jeweils letzten 4 bis 5 Tage vor dem Veröffentlichungsdatum aufgrund des Übermittlungsverzuges (Nachmeldungen für diese Tage in den folgenden Tagen) zunächst noch deutlichen, mit zunehmendem zeitlichen Abstand vom Veröffentlichungsdatum geringer werdenden und ab dem 6. Tag vor Veröffentlichungsdatum nur noch ganz geringfügigen Veränderungen unterlagen. Lässt man die Verzerrung der Kurve durch Veränderungen bei den Testzahlen (dazu sogleich) zunächst unberücksichtigt, ist bis zum Lagebericht vom 20.03.2020; Abb. 2 S. 3) der Kurvenverlauf mit der These einer steigenden Zahl von Neuerkrankungen noch in Einklang zu bringen, wobei ein exponentieller Anstieg allerdings nicht zu erkennen ist. Am 21.03. legt die Kurve erstmals die These nahe, dass der Höhepunkt der Neuerkrankungen bereits überschritten sein könnte (Lagebericht; Abs. 2 S. 3). Dies verfestigt sich in den folgenden Tagen weiter und spätestens am 25.03. erscheint dies kaum noch zweifelhaft: Nur die Fälle betrachtet, bei denen der Erkrankungsbeginn bekannt ist (= blaue Balken), wurde der Höhepunkt der Kurve bereits am 13.03. erreicht, bekannter Erkrankungsbeginn und hilfsweise Meldedatum aufsummiert (blaue und gelbe Balken) liegt der Höhepunkt am 16./17.03.2020. Die Folgetage 18., 19. und 20.03.2020, bei denen die aufsummierten Zahlen (blaue und gelbe Balken zusammenbetrachtet) geringer sind als am 16./17.03. liegen schon so weit gegenüber dem 25.03. zurück, dass nicht mehr so viele Nachmeldungen zu erwarten sind, dass diese Tage den 16./17.03. noch „überholen“ könnten. (Lagebericht; Abb. 3 S. 4).

67) Auch hier bedurfte es keiner epidemiologischen Fachkenntnisse, um die Grafiken, die, wie die Lageberichte überhaupt, der Information der Politik, der Verantwortlichen im Gesundheitswesen und der Bevölkerung dienen sollten, zu „lesen“. Die Grafik des Erkrankungsbeginns, die zu den dramatischen Warnungen des RKI-Präsidenten überhaupt nicht passte, wurde im Übrigen nie in den Pressekonferenzen des Robert Koch-Instituts präsentiert.

Geänderte Teststrategie und Änderung der Testanzahl

68) Zu berücksichtigen ist bei der Interpretation der Kurve aber noch, dass sie durch eine geänderte Teststrategie („Wer wird getestet?“) und die Veränderung der Anzahl der Tests verzerrt wird. Die Teststrategie blieb allerdings bis zum 24. März unverändert (s.o. aa)), die Änderung danach war nur geringfügig und erfolgte nach dem hier betrachteten Zeitraum. Die Steigerung der Testzahlen (vom Beginn bis einschließlich 10. KW: 124.716 Tests, 11. KW: 127.457 Tests, 12. KW: 348.619 Tests, 13. KW: 361.515 Tests, 14. KW 408.348 Tests) bewirkt allerdings eine deutliche Verzerrung der Kurve, da mehr Tests zu mehr Positivtests führen. Dieser Effekt ist in der Grafik der Erkrankungen nicht „herausgerechnet“ (dies wäre auch exakt nur möglich, wenn die Zahl der Tests und die Ergebnisse dieser Tests taggenau bekannt wären). Der durchgängige Anstieg der Testzahlen von der 10. bis zur 14. KW lässt dabei aber den sicheren Schluss zu, dass einem fallenden Verlauf der Kurve auf jeden Fall ein fallender Verlauf der Neuinfektionen entspricht und der Höhepunkt der Neuerkrankungen früher gewesen sein muss, als der Kurve zu entnehmen, denn durch den Anstieg der Testzahlen wurde ein Absinken der tatsächlichen Neuinfektionen (teilweise) kompensiert oder überkompensiert. Auch für den Verordnungsgeber war dieser Zusammenhang erkennbar, da er zumindest wusste, dass die Testzahlen gesteigert wurden.

Schlüsse auf die Entwicklung des Infektionsgeschehens hätten gezogen werden können

69) Nach dem Gesagten greift der Einwand, mangels Testung von repräsentativen Stichproben der Bevölkerung könnten aus den Daten des Robert Koch-Instituts keine Schlüsse auf die Entwicklung des Infektionsgeschehens gezogen werden (so H. E. Müller, Beck-Blog v. 24.01.2021, abrufbar hier), nicht durch. Richtig daran ist, dass ohne Testung repräsentativer Stichproben nicht gesagt werden kann, wie viele Infizierte es tatsächlich gibt, die Dunkelziffer also nur geschätzt werden kann. Die Dunkelziffer muss aber nicht bekannt sein, um aus den erhobenen Daten Schlüsse auf den Verlauf der Epidemie (die Entwicklung der Zahl der Neuinfektionen) zu ziehen. Voraussetzung dafür ist lediglich, dass die Daten Repräsentativität bezogen auf die Gesamtheit der infizierten Personen beanspruchen können. Davon kann ausgegangen werden, wenn in der Breite getestet wird (das war spätestens ab der 10. Kalenderwoche der Fall) und die Teststrategie weitgehend gleichbleibend ist. Außerdem muss die Entwicklung der Testzahlen (natürlich möglichst genaue Zahlen) bekannt sein, damit Verzerrungen durch die Veränderung der Testzahlen berücksichtigt werden können.

70) Auch die Positivenquote, die erstmals am 26.03.2020 veröffentlicht wurde, so dass sie bei Verordnungserlass noch nicht bekannt war, sondern allenfalls im Rahmen der fortlaufenden Beobachtungs- und Überwachungspflicht des Verordnungsgebers berücksichtigt werden konnte, ermöglicht wichtige Schlüsse auf den Verlauf der Epidemie. Da im März nur symptomatische Personen getestet werden sollten – wobei davon auszugehen ist, dass diese Vorgabe des RKI wenn nicht vollständig, so doch weitgehend eingehalten wurde – bedeutet eine Positivenquote von 5,9% (11. KW), dass bei 1000 getesteten symptomatischen Personen bei 59 der PCR-Test positiv war (Zu der Frage, warum die Positivenquote deutlich höher war als in den Sentinelproben der AGI, kann das Gericht allenfalls Mutmaßungen anstellen). Der Anstieg der Positivenquote von 5,9% auf 6,8% in der 12. KW (um 15 %) bedeutet nun nicht, dass die Zahl der Neuinfizierten um 15% gestiegen wäre (Nur aus Gründen sprachlicher Vereinfachung werden an dieser Stelle Testpositive und Infizierte gleichgesetzt; dem Gericht ist bewusst, dass ein positiver PCR-Test nicht notwendig bedeutet, dass der Betreffende infiziert oder infektiös ist; so bereits OVG NRW, Beschluss vom 25.11.2020 – 13 B1780/10.NE – juris, Rn. 47;), denn es handelt sich nur um eine relative Steigerung bezogen auf die getesteten symptomatischen Personen, die abhängig ist von der Zirkulation der anderen Atemwegsviren (Influenzaviren, Rhinoviren, bekannte humane Coronaviren, Parainfluenzaviren) in der Bevölkerung. Da die Influenzawelle laut RKI von der 11. auf die 12. KW stark zurückging, kann der relativen Zunahme von 5,9% auf 6,8% SARS-CoV-2 auch ein Rückgang der absoluten Infektionszahlen entsprechen, der nur nicht sichtbar wird, weil der Influenza-Anteil am „Gesamtmix“ stärker sank. Ein starker exponentieller Anstieg dagegen könnte sich hinter einer relativen Steigerung von nur 15% nur dann „verstecken“, wenn auch die Erkrankungen mit anderen Atemwegsviren im selben Zeitraum stark angestiegen wären. Dass dies nicht der Fall war, sondern die ILI-Erkrankungen vielmehr zurückgingen, wurde aber bereits festgestellt.

71) Hinsichtlich der Aussagekraft der Daten des RKI herrscht somit keineswegs die Nacht, in der alle Katzen grau sind und in der sich aus den Daten keine wichtigen Schlüsse für den Verordnungsgeber hätten ergeben können.

Kritik und Skepsis sind Tugenden des aufklärerischen Denkens

72) H. E. Müllers Anmerkung lässt es im Übrigen angezeigt erscheinen, daran zu erinnern, dass Kritik und Skepsis bisher als Tugenden aufklärerischen Denkens galten. In der Corona-Krise werden diese Begriffe dagegen umstandslos benutzt, um Vertreter einer kritischen Position gegenüber der Corona-Politik der Bundes- und Landesregierung(en) unter Umgehung einer argumentativen Auseinandersetzung als „Corona-Kritiker“ bzw. „Corona-Skeptiker“ ins diskursive Abseits zu stellen. Wenn „skeptische Wissenschaftler“ ein Begriff ist, mit dem Wissenschaftler diffamiert werden können, mag man fragen, was der positive Gegenbegriff dazu sein soll. Und wenn sachliche Argumente in einem Urteil mit dem Etikett „Behauptungen der Corona-Skeptiker“ versehen werden, um sie auf diese Weise ohne inhaltliche Diskussion erledigen zu können, zeigt das nur, dass auch der juristische Diskurs von den schweren Beschädigungen der öffentlichen Debatte in der Corona-Krise nicht verschont geblieben ist-(vgl. dazu Lepsius, Das verfassungsrechtliche Argument hat es schwer, hier abrufbar).

Rückgang der Neuinfektionen haben nichts mit Maßnahmen zu tun

73) dd) Für den Verordnungsgeber war auch erkennbar, dass der Rückgang der Neuinfektionen nicht die Wirkung der bereits getroffenen Maßnahmen sein konnte. Bereits ohne Berücksichtigung der zeitlichen Verzerrung durch die Steigerung der Testzahlen war nach der Kurve des Erkrankungsbeginns der Höhepunkt der Neuerkrankungen am 17./18. 03. erreicht, der Höhepunkt der Neuinfektionen bei einer Inkubationszeit von 5 Tagen danach am 12./13.03. In Thüringen wurde erst mit Erlass der Gesundheitsministerin vom 13. März die Schließung der Gemeinschaftseinrichtungen nach § 33 Nr. 1-5 IfSG ab dem 17. März verfügt, die Schließung von Einrichtungen wie Kinos, Theater, Clubs etc. und die Beschränkung des Betriebs von Gaststätten u.a. erfolgte zum 18. März. Auch im übrigen Bundesgebiet wurden die Gemeinschaftseinrichtungen erst zum 16. März geschlossen, ebenso weitere Einrichtungen und Betriebe erst in der 12. Kalenderwoche. Diese Maßnahmen konnten daher für den Rückgang der Neuinfektionen ab (spätestens!) 12./13. März nicht kausal sein (vgl. dazu bereits AG Weimar, aaO, Rn. 23-25 und 48f. – Diese Abschnitte des Urteils hat der BayVGH offensichtlich überlesen, wenn er (Beschluss vom 24.01.2021, – 10 CS 21.249 –, S. 16) meint, das Gericht habe die naheliegende Annahme, die Maßnahmen im Frühjahr 2020 könnten zu der geringen Übersterblichkeit und zu der geringen Auslastung der Intensivbettenkapazitäten geführt haben, in seinen Überlegungen ausgespart.).Intensivstationen sehr weit von Überlastung entfernt

77) gg) An empirischen Daten war von dem Verordnungsgeber auch die Belastung der Intensivstationen in Thüringen zu berücksichtigen. Die Belegung mit COVID-19-Patienten ist dem DIVI-Intensivregister für den 25. März noch nicht verlässlich zu entnehmen, da zu diesem Zeitpunkt noch nicht alle Krankenhäuser ihre Belegung an das Register meldeten (nur 326 Betten insgesamt gemeldet, davon 185 Betten frei, 141 belegt, davon 9 mit COVID-19-Patienten belegt). Dies zeigt sich auch an der weiteren Entwicklung der Daten des Registers: Am 3. April waren dann bereits 795 Betten gemeldet (davon 417 frei, 378 belegt, davon 36 COVID-19-Patienten), am 13. April 1042 Betten (davon 422 frei, 461 belegt, davon 61 COVID-19-Patienten). Die höchste Anzahl von COVID-19-Patienten auf Intensivstationen wurde im Frühjahr 2020 in Thüringen am 24.04.2020 mit 63 gemeldet. Für den Verordnungsgeber waren genaue Zahlen durch Abfrage in den Kliniken auch schon unabhängig vom Intensivregister vor dem 26. März zu erhalten. Ganz sicher waren jedenfalls die Intensivstationen in Thüringen am 25.03.2020 von einer Überlastung sehr weit entfernt.

Modellierungsstudien

83) International besonders einflussreich war die Studie von Ferguson et al. (Imperial College London) Report 9: Impact of non-pharmaceutical interventions (NPIs) to reduce COVID-19 mortality and healthcare demand vom 16.03.2020 (PDF-Dokument).

84) aa) Die Studie des RKI modellierte eine Vielzahl Beispielszenarien mit folgenden festen Annahmen: mittlere Inkubationszeit 5 Tage, Basisreproduktionszahl R0 = 2, bei 4,5% der Infizierten schwere Verläufe (d.h. hospitalisierungspflichtig), 25% der schweren Verläufe intensivpflichtig, Risiko der Intensivpflichtigen zu versterben bei 50%, was einer Letalität von 0,56% (s.o. a) ff)) entspricht. Als unbekannt galt für die Autoren, ob das Virus eine Saisonalität aufweist und ob es in einem Teil der Bevölkerung eine (Kreuz-)Immunität gibt. Daher wurden Szenarien mit den wechselnden Annahmen „keine Saisonalität“, „leichte Saisonalität“ und „deutliche Saisonalität“ (dies wurde hinsichtlich der saisonabhängigen Schwankungen der Basisreproduktionszahlen näher definiert), sowie „keiner immun“ und „1/3 immun“ modelliert. Weitere Variablen waren der Anteil derjenigen Erkrankten, die im Mittel vier Tage nach Symptombeginn positiv getestet werden und isoliert werden oder sich selbst isolieren und der Anteil der engen Kontaktpersonen dieser Fälle, die in Quarantäne gehen (Hinsichtlich der Quarantäne ist anzumerken, dass die von der WHO im Oktober 2019 veröffentlichte Metastudie „Non-pharmaceutical public health measures for mitigating the risk and impact of epidemic and pandemic influenza“ Quarantänemaßnahmen dezidiert nicht empfiehlt: „Home quarantine of exposed individuals to reduce transmission is not recommended because there is no obvious rationale for this measure, and there would be considerable difficulties in implementing it.“ WHO-Veröffentlichung, S. 13 u. 47). Wahrscheinlichkeiten hinsichtlich der Frage der Saisonalität, der Immunität und der Erreichbarkeit bestimmter Prozentanteile der Isolierung Erkrankter wurden dabei nicht angegeben. Wichtig erscheint, dass außer Isolierung und Quarantänisierung keine weiteren Maßnahmen bei der Modellierung berücksichtigt werden, „allgemeine Kontaktreduzierung“ wird zwar als dritte wichtige Maßnahme genannt, aber nicht näher konkretisiert und nicht im Modell eingerechnet.85) Bei einer Vielzahl von Szenarien kommt es zu einem Bedarf an Intensivbetten, der den Bestand teilweise um ein Vielfaches übersteigt. Im Worst-Case-Szenario (Annahmen: keine Saisonalität, keine Immunität, keine Isolierung Erkrankter) errechnet das Modell mehr als 350.000 Tote für Deutschland (Abb. 8).

86) Das Gericht sieht sich nicht in der Lage, die Qualität dieser Modellierung zu überprüfen und dies kann sicher auch nicht vom Verordnungsgeber erwartet werden. Die Ergebnisse der Modellierung sind aber auch für den Laien verstehbar. Insbesondere konnte der Verordnungsgeber der Studie entnehmen, dass die Autoren keine Wahrscheinlichkeit hinsichtlich der einzelnen Szenarien angeben und die Studie die Frage, ob eine Gefahrenlage besteht, die allein mit (realistisch umsetzbaren) Maßnahmen der Isolierung Erkrankter und Quarantänisierung von Kontaktpersonen, nicht so bewältigt werden könnte, dass es zu keiner Überlastung der Intensivstationen kommt und sogar die Frage, ob ohne jede Maßnahmen überhaupt kurzfristig, d.h. im Frühjahr/Sommer eine Überlastung droht (Abb. 2!), letztlich nur mit „kann sein/kann nicht sein“ beantwortet. Umso erstaunlicher erscheinen die Schlussfolgerungen am Ende der Studie, wo es heißt: „Von jetzt an und in den nächsten Wochen sind maximale Anstrengungen erforderlich um die COVID-19-Epidemie in Deutschland zu verlangsamen, abzuflachen und letztlich die Zahl der Hospitalisierungen, intensivpflichtigen Patienten und Todesfälle zu minimieren.“ Diese Schlussfolgerungen werden von den Ergebnissen der Studie nicht getragen.

88) cc) Die Studie des Imperial College London, die ohne Gegenmaßnahmen für Großbritannien 500.000 und für die USA 2,2 Millionen Tote noch vor dem Herbst 2020 prognostizierte, war in Großbritannien und den USA von enormer politischer Wirkung bei der Entscheidung für Lockdown-Maßnahmen, obwohl Neil Ferguson schon bei früheren Pandemien mehrfach mit seinen Prognosen weit die Realität verfehlt hatte (vgl. dazu Kreiß, Corona und gekaufte Wissenschaft – wie falsche Wissenschaft die Welt in einen Abgrund stürzt, online hier abrufbar). Auch in Deutschland wurde sie breiter rezipiert (vgl. So ernst ist die Lage, WELT vom 23.03.2020, und NDR-Podcast Coronavirus-Update vom 18.03.2020, S. 4). Nach Auffassung des Gerichts würden aber die Anforderungen an den Verordnungsgeber überspannt, wenn von ihm auch die Auswertung und Berücksichtigung internationaler Studien erwartet würde, weshalb hier eine Erörterung unterbleibt. Hinzu kommt, dass sich die Studie des RKI vom 20.03.2020 auch auf die Studie von Ferguson bezog und Ergebnisse der Modellierungen verglich.

Das Strategiepapier

89) dd) Keine Modellstudie im engeren Sinne ist das zwischen dem 19.03. und 22.03.2020 entstandene Strategiepapier „Wie wir COVID-19 unter Kontrolle bekommen“ des Bundesinnenministeriums (vgl. dazu AG Weimar, aaO, Rn. 43), obwohl es auch Modellrechnungen enthält. Ob dieses Papier, das, obwohl als Verschlusssache deklariert, frühzeitig an einzelne Zeitungen gegeben wurde, die es aber nicht veröffentlichten, nur auszugsweise zitierten, dem Verordnungsgeber vor dem 26. März vorlag, ist dem Gericht nicht bekannt. Sollte dies der Fall gewesen sein, hätte ihm jedenfalls auffallen müssen, dass die Autoren des Papiers nicht namentlich genannt werden („ein Expertenteam von RKI, RWI, IW, SWP, Universität Bonn, University of Nottingham Ningbo China, Universität Lausanne und Universität Kassel“), was bei einer wissenschaftlichen Studie aber Standard ist und schon im zweiten Absatz eine sehr fragwürdige Behauptung aufgestellt wird, wenn es heißt: „Die meisten Virologen, Epidemiologien (sic!), Mediziner, Wirtschafts- und Politikwissenschaftler beantworten die Frage‚ ‘was passiert, wenn nichts getan wird‘ mit einem Worst-Case-Szenario von über einer Million Tote im Jahre 2020 – für Deutschland allein.“ Auf welche Äußerungen sich das Papier hier bezog, war vollkommen unklar, publiziert worden war eine solche Prognose nirgends und seltsam musste auch erscheinen, dass Prognosen von Wirtschafts- und Politikwissenschaftlern zum Verlauf der Pandemie von Relevanz sein sollten. Offensichtlich meinten die Verfasser des Papiers damit sich selbst, denn tatsächlich handelte es sich bei den acht Autoren, die das Bundesinnenministerium im Juni auf eine Anfrage nach dem Informationsfreiheitsgesetz mitteilte, um fünf Wirtschaftswissenschaftler, einen Politikwissenschaftler, einen Soziologen und einen Germanisten. Keiner der Autoren war Epidemiologe, Infektiologe, Virologe oder Mediziner. Ob das Bundesinnenministerium auf eine entsprechende Anfrage des Verordnungsgebers Ende März die Namen der Autoren mitgeteilt hätte, kann nur gemutmaßt werden, skeptisch gegenüber dem Papier hätte der Verordnungsgeber aufgrund der genannten Merkwürdigkeiten aber ohnehin sein müssen.

Näher dazu:

Exemplarische Äußerungen von Experten aus März 2020

91) Christian Drosten, Professor für Virologie an der Charité Berlin, am 01.03.2020 im Interview der BILD-Zeitung: „Ich glaube, dass wir das Virus hier bei uns auf sehr, sehr kleiner Flamme halten können, vielleicht sogar auf so kleiner Flamme, dass wir das kaum noch bemerken im Alltag.“

93) Andreas Gassen, Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung am 07.03.2020 im Interview mit der BILD-Zeitung: „Dass jemand an einer anderen Erkrankung stirbt, weil wir einen Notstand wegen Corona haben, würde ich für ausgeschlossen halten. … Corona ist eine Atemwegserkrankung, die in den allermeisten Fällen milde verläuft. Wir haben 28.000  Beatmungsplätze in Deutschland. Das ist mehr als die Zahl der weltweit schwer erkrankten Coronainfizierten! Das deutsche Gesundheitssystem ist extrem leistungsfähig.“ Das droht Deutschland und darauf kommt es jetzt an.

95) Reinhard Busse, Leiter des Fachgebiets Management im Gesundheitswesen an der TU Berlin und Co-Direktor des European Observatory on Health Systems an Policies erklärte laut Ärzteblatt vom 12. März, dass auch die italienischen Verhältnisse „uns noch längst nicht überlasten würden.“ Deutschland sei, was die Intensivstationen angehe, deutlich besser ausgestattet als Italien (um den Faktor 2,5), er gehe davon aus, dass „wir mit unseren Kapazitäten gut hinkommen.

98) Hendrik Streeck, Professor für Virologie an der Universität Bonn, am 16.03.2020: „ich lehne mich mal weit aus dem Fenster und sage: Es könnte durchaus sein, dass wir im Jahr 2020 zusammengerechnet nicht mehr Todesfälle haben werden als in jedem anderen Jahr.“ (vgl. dazu auch Codag Bericht Nr. 8, Ludwig-Maximilians-Universität München).

Bereits existierende Pandemiepläne

103) d) Zur Beantwortung der Frage, welche Maßnahmen bei einer pandemischen Lage in Betracht kommen, konnte der Verordnungsgeber auf den bereits zitierten Thüringer Influenza-Pandemieplan sowie auf den Nationalen Pandemieplan und die Ergänzung zum Nationalen Pandemieplan – COVID-19 – neuartige Coronaviruserkrankung“ des RKI vom 04.03.2020 zurückgreifen. Diesen Pandemieplänen ist gemeinsam, dass sie (neben der Isolierung Erkrankter und Quarantänemaßnahmen) als die Öffentlichkeit bzw. Teile davon betreffende nicht-pharmazeutische antiepidemische Maßnahmen lediglich die Schließung von Gemeinschaftseinrichtungen (Schulen, Kindergärten etc.) und Massenunterkünften, Besuchsregelungen bzw. -verbote in Krankenhäusern sowie Alten- und Pflegeheimen und die Beschränkung bzw. das Verbot von Massenveranstaltungen und Großereignissen vorsehen. Ein allgemeines Kontaktverbot wird dagegen ebensowenig wie Ausgangssperren, die Schließung weiter Teile des Einzelhandels, die Schließung von Museen, das Verbot von Gottesdiensten, Vereinstreffen etc. empfohlen. Auch die Ergänzung zum Nationalen Pandemieplan vom 04.03.2020 beinhaltet keine Erweiterung des bisherigen Maßnahmenkatalogs. Da bis Anfang März 2020 allgemeine Kontaktverbote nie ernsthaft zur Pandemiebekämpfung in Erwägung gezogen wurden, wurde die Wirksamkeit dieser Maßnahmen auch kaum erforscht, so dass der Verordnungsgeber hier nicht auf Forschungsergebnisse zurückgreifen konnte. Hinsichtlich der Wirksamkeit der in den Pandemieplänen vorgesehenen Maßnahmen konnte dagegen die bereits erwähnte Metastudie der WHO „Non-pharmaceutical public health measures for mitigating the risk and impact of epidemic and pandemic influenza“ herangezogen werden.

Das Fazit: Kontaktverbot keine vertretbare Entscheidung

104) e) Aus der Erhebung des für den Verordnungsgeber erreichbaren Materials hinsichtlich der Gefahrenprognose und der in Betracht kommenden Maßnahmen ergibt sich danach folgendes Fazit für den Zeitpunkt des Verordnungserlasses:

105) Es gab Modellrechnungen, die bei Eintritt bestimmter Bedingungen eine dramatische Überlastung des Gesundheitssystems prognostizierten. Wie wahrscheinlich der Eintritt dieser Bedingungen war, konnten die Studien nicht angeben. Es gab Experten, die ab der 12. Kalenderwoche erklärten, es finde ein exponentielles Wachstum an Neuinfektionen statt, weshalb eine Überlastung der Intensivstationen drohe, und die dabei den Anschein erweckten, dass ihre Aussagen durch empirische Daten gedeckt seien, was aber nicht der Fall war. Daneben gab es Experten, die keine Überlastung erwarteten. Es gab empirische Daten aus den etablierten Surveillance-Systemen des Robert-Koch-Instituts, wonach die Zahl der stationär behandelter Fälle mit akuten respiratorischen Infektionen (SARI-Fälle) in der 10. und 11. Kalenderwoche und die Zahl der Influenza-ähnlichen Erkrankungen (ILI-Rate), zu denen auch COVID-19 zählt, in der 12. Kalenderwoche jeweils gegenüber der Vorwoche gesunken war und der Anteil von SARS-CoV-2 in den Sentinelproben der Arbeitsgemeinschaft Influenza des RKI in der 12. Kalenderwoche bei nur 1,6 % lag. Und es gab empirische Daten in den Täglichen Lageberichten des RKI, die zumindest sehr stark dafür sprachen, dass die Zahl der täglichen COVID-19-Neuerkrankungen ihren Höhepunkt bereits vor dem 20.03.2020 überschritten hatte und im Sinken begriffen war. Was es nicht gab, waren empirische Daten, die die Hypothese, die Zahl der täglichen Neuinfektionen befinde sich noch im (exponentiellen oder auch nur linearen) Anstieg, hätten stützen können (die „Fallzahlen“ waren es, wie dargelegt, nicht.). Und schließlich war bekannt, dass das Thüringer Gesundheitssystems von einer Überlastung sehr weit entfernt war.

106) Dies alles konnte und musste bei Aufwendung der von ihm zu erwartenden Sorgfalt bei der Ermittlung und Auswertung der verfügbaren Erkenntnisquellen der Verordnungsgeber wissen. Da sich die Richtigkeit von Modellstudien an der empirischen Wirklichkeit und nicht die Richtigkeit empirischer Fakten an Modellstudien erweisen muss, war für den Verordnungsgeber danach bei einer „sachgerechten und vertretbaren Beurteilung des erreichbaren Materials“ (BVerfGE 50, 290, juris, Rn. 113) der Schluss unabweisbar, dass eine Überlastung des Gesundheitssystems aktuell und in nächster Zukunft nicht drohte und somit keine weiteren Maßnahmen ergriffen werden mussten, um eine solche Überlastung zu verhindern. Der Frage, ob ein allgemeines Kontaktverbot ein geeignetes, erforderliches und angemessenes Mittel zur Verfolgung des in der amtlichen Begründung angegebenen Zieles wäre, hätte sich der Verordnungsgeber danach gar nicht erst zuwenden müssen.

107) Die Anordnung des Kontaktverbots zum Ziel einer Verhinderung der Überlastung des Gesundheitssystems kann daher nicht als im Rahmen der Einschätzungsprärogative des Verordnungsgebers (noch) vertretbare Entscheidung bewertet werden.

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