Ging es bei den aufsehenerregenden, teilweise in aggressive Gewalt ausartenden Massenprotesten im März auf der Insel Korsika tatsächlich in erster Linie um die Interessen der Inselbevölkerung? Welche Rolle spielen die “French Connection” und das Clanwesen der Mafia? Wollte der französische Staat mit der von ihm zugelassenen Ermordung des Separatisten Yvan Colonna ein Signal senden? Die Nationale Befreiungsfront Korsikas, die NFLC, droht mit einer Wiederaufnahme des bewaffneten Kampfes.
Im März wurde Korsika zwei Wochen lang von radikalisierten Massendemonstrationen erschüttert, die tausende Korsen für Autonomie und gegen Islamismus auf die Straßen brachte. Report24 berichtete: Korsen rebellieren gegen Islamisierung und Pariser Zentralstaat
Auslöser war die, vielleicht politisch gewollte, schwere Misshandlung des Nationalisten Yvan Colonna im Hochsicherheitsgefängnis von Arles, der am 21. März schließlich seinen Verletzungen erlag. Der archaische Impuls der Korsen zu gewaltsamen Reaktionen ist in Frankreich sprichwörtlich. Viele Festlands-Franzosen verzieren ihr Fahrzeug mit einem Aufkleber des Mohren mit weißer Kopfbinde, das Wappen der Insel. Die Botschaft lautet: „Leg dich ja nicht mit mir an“! Während der Präsidentschaftswahlen war Staatspräsident Macron um Beruhigung der Lage bemüht und verspricht den Korsen wieder einmal Autonomie.
Brutale Ermordung durch einen Islamisten
Der Islamist Franck Elong aus Kamerun, ein dschihadistischer Afghanistanveteran, war Colonna auf den Rücken gesprungen, hatte ihn brutal geschlagen, minutenlang gewürgt und versucht, ihn mit Plastikbeuteln zu ersticken. Die Gefängniswärter ließen den IS-Fanatiker, der schon lange die Ermordung von Colonna geplant und öffentlich angekündigt hatte, unbeaufsichtigt mit ihm in einer Turnhalle allein. Als schließlich doch eine Wache eingriff, konnte das Opfer gerade noch reanimiert werden, fiel ins Koma und starb einige Tage später im Krankenhaus. Er und seine Unterstützer hatten aus Sicherheitsbedenken immer wieder eine Verlegung nach Korsika gefordert, die Republik stellte sich aber taub!
Eine offensichtlich sehr gefährliche Person wurde absichtlich in direktem Kontakt mit Yvan Colonna belassen, die Gefängnisverwaltung und die Regierung auf höchster Ebene des Staates wussten, dass es ein spezifisches Risiko gab.
Gilles Simeoni, Yvan Colonnas früherer Anwalt und Regierungschef Korsikas
Yvan Colonna, ein einfacher Ziegenhirte?
Nationalisten und ihre Autonomieforderungen dominieren seit Langem den politischen Diskurs auf Korsika. Colonna versteckte sich fünf Jahre lang vor der Polizei und begründete damit seinen Ruhm bei der Jugend der Insel. Während dieser Zeit arbeitete er als Hirte im Dorf Olmeto, etwa 60 Straßenkilometer südlich von Ajaccio. Er wurde vom französischen Staat für die Ermordung des Inselpräfekten Claude Erignac 1998 verantwortlich gemacht und in einem Schauprozess zu einer lebenslänglichen Zuchthausstrafe verurteilt. Er beteuerte immer wieder seine Unschuld. Die ballistische Analyse wies auf einen 1,8 m großen Mörder hin, Yvan Colonna war aber nur 1,7 m groß, außerdem behaupteten zwei Zeugen, dass der Schütze nicht Colonna gewesen sei. Es ist denkbar, dass Yvan an diesem Mord tatsächlich unschuldig war. Tatsache ist jedoch, dass er an einem Angriff auf eine Gendameriestation teilnahm, um Waffen zu stehlen.
Doch stimmt dieses idyllisch wirkende Motiv vom Underdog, dem kleinen idealistischen Ziegenhirten aus der Provinz, der die despotische Übermacht der stolzen Grande Nation vorführt? Gibt es andere, unbekannte Handlungsmotive auf beiden Seiten? Aus der Perspektive des französischen Staates: Wollte man nicht nur mit seiner Verurteilung, sondern auch mit seiner Ermordung unübersehbare Signale setzen?
Einen Hinweis liefert der Kommentar einer Zeitungskorrespondentin aus Paris, Antoine Colonna. Dem Namen nach ist sie Teil der Colonna Sippe, sie verweist auf den Ruf des Clans bis in die Pariser Machtstrukturen hinein. Auch die Tatsache, daß Gilles Simeoni, der nationalistische Regierungschef Korsikas, der Verteidiger im Mordprozess Claude Erignac war, deutet darauf hin, dass Colonna eine bedeutsame Rolle inne hatte.
Erfolge der Autonomiebewegung
Die Nationale Befreiungsfront Korsikas (NLFC) verfolgte seit 1976 eine terroristische Strategie wie die baskische ETA oder die IRA, den sorgfältig geplanten Anschlägen fielen jedoch nur Vertreter des verhassten französischen Staates und keine Einheimischen zum Opfer. Die Organisation war für über 4.600 Anschläge verantwortlich, die neun Polizisten und den Inselpräfekten Claude Erignac, den höchsten Repräsentanten Frankreichs auf Korsika, 1998 das Leben kosteten.
Die Befreiungsfront rief 2014 einseitig einen Waffenstillstand aus, diese Abwendung von der Gewalt machte sich für die nationalistischen Parteien, den politischen Arm der NLFC, politisch bezahlt. 2015 gewannen sie die Regionalwahlen, 2017 konnte die “Für Korsika” Koalition 41 von 63 Sitzen gewinnen und 2021 triumphierte sie schließlich mit 68 % der Stimmen und 46 Sitzen im korsischen Landtag.
Nationalistische Mobilmachung nach Mord an Colonna
Am 3. März gab es eine Versammlung von Parteien und Verbänden an der Universität Korsika, um eine Mobilisierung aller nationalistischen Kräfte zu erreichen. Die Forderungen lauteten:
Wahrheit und Gerechtigkeit in Bezug auf die Ermordung Colonnas, Freiheit oder Überstellung der politischen Gefangenen nach Korsika und Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts Korsikas.
Massenversammlung an der Universität Korsika, 3. März 2022
Graffitis mit der Losung “Franzosen raus” tauchten überall auf und es kam zu gewaltsamen Zusammenstößen mit der französischen Bereitschaftspolizei in den korsischen Städten Ajaccio, Bastia und Corti. Der größte Protestmarsch der Woche fand am 6.3. in Corti statt. 10.000 Teilnehmer skandierten “Frankreich, Mörderstaat”. Inzwischen hat sich auch die Nationale Befreiungsfront zu Wort gemeldet und droht offen dem französischen Staat.
“Missachtung erzeugt Wut und Wut führt zur Revolte. Und bei uns führt die Revolte zum Aufstand.“
Drohung der NLFC gegen die französische Republik
Nationale Befreiungsfront: klare Kante gegen den Djihadismus
Die korsische Befreiungsfront hat bewiesen, dass ihre Drohungen ernst zu nehmen sind. Anlass war die blutige Schächtung (Durchschneiden der Kehle) des 85-jährigen Priesters Jacques Hamel am 26. Juni 2016 in der Kirche in Saint-Etienne-du-Rouvary in der Normandie durch zwei islamistische Fanatiker. Dieser Angriff auf den christlichen Glauben erregte weltweites Aufsehen und Pater Hamel wurde von der katholischen Kirche zum Märtyrer erklärt.
„Eure mittelalterliche Philosophie macht uns keine Angst. Ihr solltet wissen, dass jeder Angriff auf unser Volk eine entschlossene Reaktion auslösen würde, ohne jegliche Skrupel… Die Salafisten wollen eindeutig die Politik des Daesh (IS) bei uns etablieren, und darauf sind wir vorbereitet.“
FNLC Statement, 22.10. 2016
Ein paar Wochen später, im Dezember, verwüsteten Kundgebungsteilnehmer in Ajaccio eine islamische Moschee und warfen Gebetsbücher durch den Raum. Bereits im September 2016 war es zu Brandanschlägen auf Moscheen und Massenschlägereien zwischen einheimischen Demonstranten und Mohammedanern gekommen. Die gewaltsamen Aktionen der FNLC und antiislamistische Proteste der nationalistischen Organisationen werden scheinbar gut aufeinander abgestimmt. Die Ermordung von Yvan Colonna durch einen Dschihadisten heizt auch diesen Konflikt wieder an.
French Connection-Autonomie für die Mafia?
Der Name French Connection bezieht sich auf den Schmuggel von Heroin nach Nordamerika durch die korsische Mafia, die eine mächtige globale Organisation aufbaute. Angeblich wurde dieses Kartell in den 1970er Jahren zerschlagen, das vor allem in Frankreich Nachrichtendienste, Polizei und Justiz unterwandert hat(te). Korsika ist nach wie vor ein Mafiagebiet vergleichbar mit dem Mezzogiorno (Süditalien) oder Albanien. Die Mordraten sind dreimal höher als die des Großraums Paris, bei einer Bevölkerung von gerade einmal 340.000 Seelen. Die Macht alteingesessener Familien, archaische Sitten und die aus der Hirtenkultur stammenden Bluttaten festigen die Clans.
Inwiefern wird der Separatismus von der Mafia angeheizt, um eigene Ziele umzusetzen? Autonomie und damit politische Kontrolle über die Inselverwaltung würde auch weniger Durchgriffsmöglichkeiten der französischen Zentralregierung gegen die organisierte Kriminalität bedeuten: eine Lösung, die auch immer von der sizilianischen Mafia angestrebt wurde. Die einflussreichen Clans und ihre Parteien wären dann die Herren der Insel. Sie könnten die Bürokratie, Polizei und Justiz mit ihren eigenen Leuten besetzen und den renitenten Rest der Beamtenschaft bestechen oder ihren Gehorsam erpressen.
Wollte der französische Staat Yvan Colonnas Clan und die restliche Inselmafia davor warnen, zu freche Machtansprüche zu stellen? Ist die expansive Inselmafia anderen Kartellen oder Machtstrukturen innerhalb des französischen Staats in die Quere gekommen?
Korsische Mafia: Brise de Mer und Jean Je Colonna
Die politische Geografie Korsikas wird von zwei Mafiabanden beherrscht, die sich zwischen 1980 und 2000 bekämpften. Dieser Bandenkrieg um Territorien zwischen der im Süden der Insel ansässigen mächtigen Colonna Familie, benannt nach ihrem Gründer Jean Jerome Colonna und der im Norden regierenden Gang de la Brise de Mer kostete 120 Menschen das Leben.
Der Meeresbrise Clan zerschlug 2001 eine terroristische Splittergruppe, Armata Corsa, die sich gegen die Einheit von organisierter Kriminalität und politisch motiviertem Terrorismus richtete. Auch der Name eines anderen wichtigen Mafiaclans, der Union Corse, weist auf die Vermischung gewerkschaftlich-politischer und krimineller Aktivitäten hin. Die Angriffe der Nationalisten richteten sich in Ajaccio, der Inselhauptstadt, gegen die Amtsgebäude, die die größten natürlichen Feinde von kriminellen Organisationen sind: Das Finanzamt in Bastia und das Gericht in Ajaccio wurden in Brand gesteckt!
Colonna Clan: Schwarzer Adel und Gründer der Cosa Nostra
Der korsische Colonna Clan gehört zu einem weit verzweigten und einflussreichen mafiösen Netzwerk aus Italien. Die sizilianische Mafia geht auf Baron Niccolo Turrisi Colonna in Palermo zurück, der äußerlich als respektabler Politiker auftrat, tatsächlich aber der Organisator und Vordenker der Cosa Nostra war. Die Colonna, stell(t)en neben den Orsini seit dem 16. Jahrhundert die fürstlichen Assistenten des päpstlichen Throns, die höchste Funktion, die Nicht-Geistliche im Vatikan ausüben können. Der hochadelige Teil der Familie besteht aus mächtigen Bankiers und kontrolliert italienische und internationale Kartelle.
Auch der Orsini Clan, der auch die kalabrische N’drangheta beherrscht, ist auf Korsika aktiv. Daneben soll der Bonaparte Clan, der den Feldherren Napoleon hervorbrachte, eine wichtige Rolle spielen. Huldigungen erfährt ihr Oberhaupt, Jean-Christophe Bonaparte, auch von einem Teil der französischen Monarchisten, die ihn als (theoretischen) Thronanwärter verehren. Den größten Einfluß auf die korsische Mafia hat angeblich die Corsini Familie, die Teil des Schwarzen Adels ist.