Einseitige Einmischung hilft niemandem und von außen initiierte Regime-Changes sorgen zumeist nur für eine Verschlechterung der Situationen. Der kollektive Wertewesten verprellt damit auch den „Globalen Süden“. Zur Durchsetzung internationalen Rechts würde eine Stärkung und Reform der Vereinten Nationen in Sachen Interventionen ausreichen.
Ein Kommentar von Heinz Steiner
Die westlichen Nationen haben es sich angewöhnt, weltweit zu intervenieren und sich in die Angelegenheiten anderer Länder einzumischen. Ging es früher vor allem um die Kolonialreiche, sind es heute insbesondere Wirtschaftsinteressen und die Schaffung von politischen und soziokulturellen Einflusszonen, die dominieren. Alleine die Vereinigten Staaten haben zwischen 1946 und 2000 mindestens 81 offene und auch verdeckte Eingriffe in ausländische Wahlen vorgenommen. Frankreich und Großbritannien waren in ihren ehemaligen Kolonien ebenfalls weiterhin aktiv. Das nachsowjetische Russland beschränkte sich nach dem Fall der Sowjetunion vor allem auf das Gebiet der Nachfolgerepubliken (Ukraine, Moldawien, Georgien), intervenierte aber beispielsweise auf Bitte der syrischen Regierung ebenso in dem dortigen Krieg.
Dennoch zeichnet sich ein bestimmtes Bild ab. Während sich andere Länder vor allem in ihrer direkten Nachbarschaft (z.B. die Interventionen des Irans, Saudi-Arabiens und der Vereinigten Arabischen Emirate im Jemen) engagieren, agiert der kollektive Wertewesten unter Führung der Vereinigten Staaten global. Nach 9/11 folgten beispielsweise Invasionen in Afghanistan und im Irak, infolgedessen dort die Regierungen gestürzt und ausgetauscht wurden. Doch während in Afghanistan mittlerweile die Taliban wieder an der Macht (und stärker als zuvor) sind, dominieren im Irak nach dem IS-Chaos schiitische (und pro-iranische) Fraktionen. Als die NATO im Jahr 2011 in den libyschen Bürgerkrieg eingriff und Staatschef Muammar al-Gaddafi stürzte, sorgte sie für die totale Destabilisierung des nordafrikanischen Landes. Und die Unterstützung der Maidan-Bewegung in der Ukraine sowie der pro-westlichen Putschregierung nach dem Sturz des demokratisch legitimierten Präsidenten Victor Janukowitsch, sorgte erst zur Abspaltung des Donbass und der Integration der Krim in die Russische Föderation und schlussendlich zum russischen Einmarsch in das Nachbarland.
Wo man auch hinblickt, sorgen westliche Einmischungen zumeist für mehr Chaos und langwierige Konflikte. Auch die Verhängung einseitiger Sanktionsregimes gegen andere Länder zeigen zumeist nicht die gewünschten Wirkungen, wie auch die Studie „Wirkungen und Wirksamkeit internationaler Sanktionen – Zum Stand der Forschung“ belegt. Die massiven Sanktionen gegen Russland nach dem Einmarsch in die Ukraine haben zwar einen tiefen Graben zwischen dem Westen und Moskau gezogen, doch wirtschaftlich steht das größte Land der Welt besser da als zuvor. Wenngleich dies auch mit einer stärkeren Abhängigkeit von China einhergeht.
Negative Folgen westlicher Interventionen für Europa
Allerdings sorgen die westlichen Einmischungen auch für negative Auswirkungen in Europa. Der Sturz Gaddafis in Libyen öffnete das Land für Migrationsströme aus Afrika nach Europa. Als die US-Geheimdienste im Zuge des „Arabischen Frühlings“ radikalislamische Kräfte unterstützten, um Präsident Bashar al-Assad zu stürzen, führte dies zur Flucht von Millionen von Menschen – und viele davon drängten nach Europa. Der absolute Großteil der Migrantenankünfte der letzten zwei Jahrzehnte ist das Resultat solcher westlichen Interventionen und Destabilisierungsmaßnahmen.
In Afrika haben sich mittlerweile „antikolonialistische“ Bewegungen in den politischen Führungen etabliert, die die Beziehungen zum Westen selbst bestimmen wollen. Mali, Niger und Burkina Faso – alles ehemalige französische Kolonien – gründeten unter anderem ihre eigene antifranzösische und antiamerikanische Allianz. Die Alliance des États du Sahel (AES). Damit traten sie auch aus der ECOWAS aus, welche immer noch unter Kontrolle der früheren Kolonialherren stehe. Die Europäer wollten nur die Kontrolle über die Rohstoffe (Uran, Gold, Erdöl …) und die Migrationsströme fernhalten, so eines der Argumente. Doch es ist zu erwarten, dass Washington und Paris ihrerseits Anstrengungen unternehmen werden, wieder willfährige Regierungen dort einzusetzen. Man fürchtet nämlich auch eine stärkere Bindung dieser Staaten an Russland und China.
Aber auch in anderen Weltregionen nimmt die Distanzierung vom US-geführten Wertewesten zu. So wächst die BRICS-Gemeinschaft um neue Mitglieder, die ASEAN-Staaten denken über die Etablierung alternativer Zahlungssysteme zum Schutz vor westlichen Sanktionen nach und immer mehr Länder holen Teile ihrer Goldreserven aus London und New York zurück. Je mehr der Westen interveniert, belehrt und Druck ausübt, desto stärker wird der Widerstand. In einer zunehmend multipolaren Welt schwindet der westliche Einfluss unaufhaltsam.
Andere Länder, andere Sitten
Umso wichtiger wäre es, geopolitisch stärker auf Isolationismus zu setzen und den Interventionismus zu beenden. Der Westen hat keine Patentrezepte zur Lösung der Probleme der Welt und sorgt mit den ganzen einseitigen Einmischungen oftmals nur zu einer Verschlimmerung der Lage. Globale Probleme erfordern globale Lösungen – und damit auch die Kooperation der Staaten weltweit. Unilaterale Sanktionen sind dabei genauso kontraproduktiv wie militärische Eingriffe oder Regime-Change-Maßnahmen. Mehr noch muss der kollektive Wertewesten verstehen, dass der eigene kulturimperialistische Ansatz einfach überholt ist. Andere Länder, andere Sitten. Genauso wenig wie wir einen Steinzeit-Islam und das Scharia-Recht in unserem Land haben möchten, wollen die Menschen in anderen Kulturkreisen die westlichen (ihnen kulturfremden) Wert- und Moralvorstellungen ihnen aufgezwungen sehen.
Isolationismus heißt auch, anderen Ländern und Kulturen Respekt zu zollen. Wenn beispielsweise mit Russland, China und dem Iran drei komplett unterschiedliche Staaten eng zusammenarbeiten, dann funktioniert das auch deshalb, weil man sich nicht in die inneren Angelegenheiten des jeweils anderen einmischt. Ähnlich ist es bei der BRICS-Gemeinschaft. Doch die EU beispielsweise basiert auf einem bestimmten Wertekanon – und wer diesen verletzt (wie Viktor Orban und dessen Treffen mit Wladimir Putin, Xi Jinping und Donald Trump), wird von der Gemeinschaft geächtet.
Andererseits heißt Isolationismus nicht, die Brücken in die Welt abzubrechen. Es geht darum, sich auf das Wohl des eigenen Landes (oder der eigenen Staatengemeinschaft, wie z.B. der Europäischen Union) zu konzentrieren, möglichst gute und ausgeglichene Beziehungen zu anderen Ländern zu unterhalten und ein respektvolles „Nebeneinander“ zu ermöglichen. Zumindest da, wo ein „Miteinander“ nicht möglich ist. Und dort, wo es Probleme gibt, braucht es eben auch einen internationalen Mechanismus, der von der absoluten Mehrheit der Länder auch respektiert wird. Und wenn es über eine reformierte Institution der Vereinten Nationen geht, zumal sich die globalen Strukturen seit Ende des Zweiten Weltkrieges deutlich verändert haben. Denn so, wie es seit einigen Jahrzehnten ist, kann es nicht mehr länger zugehen.