Mindestens 48 Tote beim „Massaker von Odessa“ am 2. Mai 2014: Eine geplante Eskalation?

Bild: Gewerkschaftshaus in Odessa nach dem Brand. © Yuriy Kvach via Wikimedia Commons

Für die südukrainische Hafenstadt Odessa ist der zweite Mai kein Tag wie jeder andere. Denn dieses Datum ist der Jahrestag eines schrecklichen Ereignisses, das das Leben der Bewohner veränderte und den durch den Maidan-Putsch entfachten Konflikt weiter intensivierte: das Massaker von Odessa.

Ein Kommentar / eine Recherche von Nikita

So zumindest nennen es die Russen und die pro-russischen Ukrainer. Für Kiew und den Rest der Welt sind es „die Ausschreitungen des 2. Mai“. Offiziell starben an diesem Tag 48 Menschen, davon allein 42 bei einem Brand im Gewerkschaftshaus. Augenzeugen sprechen jedoch von mehr als 100 Toten, manche sogar von über 200. 

Doch wie konnte es soweit kommen? Was passierte wirklich am 2. Mai 2014 in Odessa und wie kann es sein, dass bis heute niemand dafür zur Verantwortung gezogen wurde? Eine Spurensuche.

Unstimmigkeiten im westlichen Narrativ

Folgt man dem westlichen Narrativ, so lief es folgendermaßen ab: Ein Fußballspiel der Vereine Tschornomorez Odessa und Metalist Charkiw zog Anhänger der Charkiwer Hooliganszene und des rechten Sektors nach Odessa, wo sie von pro-russischen Aktivisten angegriffen wurden, was schließlich zu Straßenschlachten führte. Im Laufe dieser Straßenschlachten drängte die pro-ukrainische Seite ihre Gegner am Kulikow-Platz zusammen, an dem Anti-Maidan-Demonstranten ein Zeltlager errichtet hatten. Die Menschen flohen in das dahinterliegende Gewerkschaftshaus. Beide Seiten bewarfen sich mit Molotowcocktails, was in einem Brand im Gebäude resultierte. Kurzum: ein Ausbruch der Gewalt, aber eben „nur“ ein tragisches Ereignis.

Und doch ist diese Geschichte voller Unstimmigkeiten. Die Webcams, die eigentlich auf das Gewerkschaftsgebäude gerichtet sind, waren just an diesem Tag nicht in Betrieb. Die Feuerwehr benötigte ca. 40 Minuten, um am Brandort einzutreffen. Fotos und Videos zeigen Polizisten, die tatenlos am brennenden Gewerkschaftshaus stehen. Der rechte Sektor in Charkiw mobilisierte im Vorfeld Hunderte seiner Anhänger, am 2. Mai nach Odessa zu reisen. Angeblich waren alle unbewaffnet, Handyvideos von Teilnehmern zeigen aber Menschen mit Schusswaffen. Auf weiteren Videos sieht man junge Frauen, die begeistert Molotowcocktails basteln. Leichen im Gewerkschaftshaus weisen Schussverletzungen, Strangulierungen und merkwürdige Verbrennungen auf.

War Odessa eine geplante Eskalation?

Kiew jedenfalls bemühte sich nach dem Vorfall schnell um Schadensbegrenzung. Einen Tag später ließ die Regierung verlauten, die „Separatisten“ hätten sich selbst angezündet. Sie hätten Molotowcocktails vom Dach geworfen und einer davon sei heruntergefallen und habe den Brand erzeugt. Dass dies weder mit den Bildern, die Brandsätze werfende pro-ukrainische Demonstranten vor dem Gewerkschaftshaus zeigten, noch mit der technischen Brandentwicklung zusammenpasste, störte die ukrainische Propaganda offenbar nicht.

Und ein weiterer Fakt, der ebenfalls sauer aufstößt, ist folgender: Bereits einen Tag nach dem Brand wurde das Gebäude der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Dutzende Menschen betraten den Tatort, der eigentlich noch ausgiebig von der Spurensicherung hätte untersucht werden sollen. Man wollte das furchtbare Ereignis, das einen unschönen Fleck auf der vermeintlich weißen Weste der Maidan-Regierung bedeutete, schleunigst vergessen. Ebenso zügig begannen die Renovierungsarbeiten.

Für die Angehörigen der Opfer war die Zeit nach dem Massaker ein emotionales Martyrium. Ihre Verwandten wurden beschuldigt, gewalttätige Separatisten gewesen zu sein und man setzte sie unter Druck, Gegenteiliges zu beweisen. Gedenkveranstaltungen am Gewerkschaftshaus wurden von rechten Gruppierungen gestört, trauernde Menschen verspottet und bedroht.

Monate später kommentierte der damalige Präsident der Ukraine, Petro Poroschenko, den Vorfall mit den Worten: „Odessa hat einen hohen Preis dafür gezahlt, pro-ukrainisch zu werden.“

Ermittlungen liefen ins Nichts

Bis heute ist das Massaker von Odessa ein dunkler Fleck in der Erinnerung an den Euromaidan. Und das liegt vor allem auch daran, dass nicht eine einzige Person dafür vor Gericht gestellt wurde. Im Anschluss an die Katastrophe wurden ausschließlich pro-russische Aktivisten verhaftet und befragt. Die Ermittlungen liefen ins Nichts. Anderthalb Jahre später kritisierte der Europarat, dass kein substanzieller Fortschritt bei den Untersuchungen gemacht worden sei, aber auch das bewirkte keine entscheidenden Veränderungen. Bis heute heißt es, dass man nicht wisse, wer oder was den Brand verursacht habe.

Zurück bleiben die schrecklichen Bilder, die jeder, der sie gesehen hat, so schnell wohl nicht wieder vergessen wird: Menschen, die aus dem Fenster springen, um den Flammen zu entkommen, und dann von einem wütenden Mob verprügelt werden. Verkohlte Leichen, die das Treppenhaus säumen. Zurück bleiben Trauer, Wut und Sprachlosigkeit. Und die Weigerung, zu vergessen, was am 2. Mai 2014 das Gesicht der sonst so friedlichen Hafenstadt für immer veränderte.

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