Das verheerende Erdbeben in der Türkei, welches in den südlichen Landesteilen und in Syrien mindestens 44.000 Todesopfer forderte, wird auch ein politisches Nachspiel haben. Die Menschen sind wütend, weil die Hilfe nur schleppend vorangeht.
Laut den jüngst veröffentlichten Zahlen haben die beiden starken Erdbeben, die die Türkei und Syrien hart trafen, insgesamt mindestens 44.000 Menschenleben gefordert. Rund 38.000 von ihnen starben in der südlichen Türkei, knapp 6.000 in Syrien. Weit über 100.000 Menschen überlebten mit teils schweren Verletzungen. Das frostige Wetter und schlechte sanitäre Bedingungen könnten die Opferzahlen noch weiter in die Höhe treiben. Auch fehlt es an ausreichend Nahrungsmitteln und sauberem Wasser, was die Ausbreitung von Krankheiten begünstigt.
Die Menschen in der Türkei werfen Präsident Recep Tayyip Erdogan und dessen Regierung nun vor, nicht effektiv genug auf die Katastrophe reagiert zu haben. Denn die Hilfskräfte kamen teilweise erst Tage später ins Zentrum des Katastrophengebiets, während die Überlebenden verzweifelt versuchten, den Schutt mit bloßen Händen wegzuräumen und ihre Angehörigen aus den Trümmern der kollabierten Gebäude zu befreien. Doch viele Straßen in der Region waren nicht mehr passierbar und auch Flughäfen und Flugplätze wurden so stark beschädigt, dass dort keine Flugzeuge landen konnten.
Eine der Ursachen, warum die Zerstörungen an den Gebäuden teilweise so groß waren, liegt auch in der grassierenden Korruption unter den türkischen Behörden. Die Baubehörden sahen geflissentlich weg, wenn die Konstrukteure und Bauunternehmen mit minderwertigem Material arbeiteten und ihre Profite auf Kosten der Bausicherheit ausweiteten. In einem Bericht heißt es, dass die türkische Bauindustrie ein „Wilder Westen“ ist, so dass die vielen kollabierenden Gebäude nur eine logische Konsequenz waren. Wären die Normen und Standards, die auch in der Türkei gelten, eingehalten worden, wären wahrscheinlich Zehntausende Menschen immer noch am Leben.
Das ist für Präsident Erdogan jedoch ein Problem, da die Menschen in der Region (und darüber hinaus) ihn für diese Missstände mitverantwortlich machen. Und angesichts dessen, dass viele der besonders stark betroffenen Provinzen als wichtige Machtbasen des 68-jährigen Staatschefs und seiner AKP gelten, geht es hier auch um das politische Überleben des Präsidenten. Schon das verheerende Erdbeben in Istanbul 1999 mit der nur langsam anlaufenden Hilfe war ein „Game-Changer“ – und sorgte nicht nur für den Zerfall der säkularen Regierung, sondern auch für den Grundstein des Aufstiegs Erdogans. Und nun könnte dieses Erdbeben für seinen Fall verantwortlich sein.
Eigentlich sollten am 14. Mai die Wahlen für das Parlament und die Präsidentschaft stattfinden. Erdogan selbst will die Wahlen um ein Jahr verschieben, doch die Opposition wehrt sich dagegen – weil man von der negativen Stimmung gegen die Regierung profitieren möchte. Nun soll das Oberste Gericht die Wahlverschiebung absegnen, aber die Opposition sieht dieses entsprechend der Verfassung nicht mit der entsprechenden Befugnis ausgestattet. Doch für Präsident Erdogan geht es ums politische Überleben. Denn seine islamistische AKP regiert schon jetzt nur mithilfe der nationalistischen MHP und müsste mit weiteren Stimmenverlusten rechnen. Auch könnte der populäre Chef der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP), Kemal Kilicdaroglu, bei den Präsidentschaftswahlen einen Achtungserfolg erzielen.
Es stellt sich also die Frage, ob sich Präsident Erdogan bei den Wahlen halten kann und mehr noch: Selbst wenn er wieder gewinnt, kann er eine Mehrheit im Parlament hinter sich versammeln? Denn die letzte Umfrage vom 31. Januar, eine Woche vor dem verheerenden Erdbeben, sah die AKP bei nur mehr einem Drittel der Stimmen, gefolgt von der CHP mit einem Viertel der Stimmen. Dies entsprach schon einem Verlust von fast zehn Prozentpunkten gegenüber den Wahlen 2018. Gleichzeitig profitierte auch die nationalistisch-laizistische Partei IYI vom Niedergang der AKP und konnte etwa ein Siebtel der Wähler in der Umfrage für sich gewinnen. Damit stehen die Wahlbündnisse um CHP, IYI plus Kleinparteien (Millet Ittifaki) und AKP plus MHP (Cumhur Ittifaki) mit 42,6 bzw. 41,0 Prozent der Stimmen gleichauf. Die kurdische Linkspartei HDP stellt mit 11,1 Prozent Stimmenanteil das Zünglein an der Waage dar. Doch das Erdbeben und die ungünstige Stimmung für die Regierung könnte das Pendel noch deutlich stärker zugunsten der Opposition verschieben, so dass selbst ein wiedergewählter Präsident Erdogan keine parlamentarische Mehrheit mehr vorzuweisen hätte.