Paukenschlag in Großbritannien: Kinder und Jugendliche sollen wegen des hohen Risikos von schwerwiegenden Nebenwirkungen nicht flächendeckend gegen Covid-19 geimpft werden, das berichtete die London Times am Montag. Damit verfolgen die Briten eine völlig konträre Strategie im Vergleich zu den meisten anderen Staaten. Nur etwa 380.000 britische Kinder im Alter von 12 bis 15 Jahren mit schwerer Immunschwäche und Kinder, die mit immungeschwächten Erwachsenen zusammenleben, kämen demnach für eine Impfung gegen Covid-19 überhaupt noch in Frage.
Von Max Bergmann
Britische Wissenschaftler und Experten kamen einem Bericht der London Times zufolge zu dem Schluss, die Auswirkungen von Covid-19 für gesunde Kinder seien so gering, dass das Risiko einer Herzmuskelentzündung dem Nutzen der Impfung überwiege. Sajid Javid, der britische Gesundheitsminister, begrüßte die Empfehlung der Experten, zieht aber dennoch die Möglichkeit grundsätzlich in Betracht, alle Kinder ab 12 Jahren noch in diesem Jahr gegen Covid-19 zu impfen. Voraussetzung hierfür seien aber neue medizinische Daten aus anderen Ländern, die alle Sicherheitsbedenken ausräumten. Diese Daten lägen bislang aber nicht vor.
Risiko-Nutzen-Abwägung: Impfung für Kinder gefährlicher als Infektion
Der britische Ausschuss für Impfung und Immunisierung (JCVI, Joint Committee on Vaccination and Immunisation, etwa vergleichbar mit der deutschen „Ständige Impfkommission“ am Robert-Koch-Institut, STIKO) kam der London Times nach zu der Schlussfolgerung, das Risiko einer Herzmuskelentzündung nach einer BioNTech-Pfizer-Impfung läge bei etwa 1 zu 20.000. Die verantwortlichen Experten machten hierbei deutlich: Das Risiko schwerer Nebenwirkungen nach der Impfung von Kindern und Jugendlichen sei als deutlich höher einzuschätzen als das Risiko in dieser Altersgruppe schwer an Covid-19 zu erkranken. In Großbritannien sind bislang etwa 1 bis 2 Kinder pro 1 Millionen Einwohner an oder mit dem SARS-CoV2 Erreger verstorben.
Britischer Ausschuss: Kinder nicht durch Long Covid gefährdet
Der Ausschuss betonte in seiner Begründung außerdem, es sei nicht bewiesen, dass die Impfung von gesunden Kindern die Wahrscheinlichkeit einer (möglicherweise auch symptomlosen) Übertragung einer Covid-19-Infektion auf Erwachsene signifikant vermindere. Weiterhin gäbe es laut britischen Experten keinerlei Anhaltspunkte für eine Gefährdung von Kindern und Jugendlichen durch das sogenannte „Long Covid“, so der Ausschuss. Zuletzt polarisierte der nicht ganz unumstrittene deutsche „Gesundheitsexperte“ Karl Lauterbach (SPD) mit seiner Aussage auf Twitter, Sonderimpfaktionen für gesunde Kinder ab 12 Jahren seien „eine gute Idee“.
Ohne Fakten und Belege anzuführen schürte er erneut Panik vor einer möglichen 4. Welle im Herbst und den von ihm propagierten Langzeitfolgen einer Covid-19 Infektion, auch „Long Covid“ genannt. Lauterbach stellte sich mit seiner eigenmächtigen Impf-Empfehlung für Kinder gegen die ausdrückliche Empfehlung der deutschen Expertenkommission STIKO, die die flächendeckende Impfung von Kindern und Jugendlichen als unbegründet ablehnt.
Das Narrativ der „gefährlichen Kinder als Superspreader“ hält sich indes bislang hartnäckig. Die vor wenigen Wochen veröffentlichte, großangelegte deutsche Gutenberg-Covid-19 Studie mit mehr als 10.000 Teilnehmern wies diese Aussage als unbegründet zurück.
Vorteile der Impfung nicht groß genug: JCVI gibt keine Impfempfehlung für Kinder
Die Diskussion über Covid-19-Impfungen von gesunden Kindern und Jugendlichen spaltete zuletzt auch in Großbritannien die Gesellschaft. Nach monatelangen und intensiven Beratungen kam das JCVI nun zu dem Schluss, die direkten Vorteile einer Impfung seien nicht groß genug um Millionen gesunder Teenager zu impfen.
Alle im Alter ab 17 Jahren (ab drei Monate vor ihrem 18. Geburtstag) haben in Großbritannien die Möglichkeit, sich gegen Covid-19 impfen zu lassen. In der Altersgruppe 12 bis 15 Jahre werden der nun veröffentlichten Empfehlung der britischen Experten nach Impfungen nur Kindern mit schweren Neurobehinderungen, Down-Syndrom, Immunsuppression und mehreren oder schweren Lernbehinderungen angeboten.
Wegen zunehmender natürlicher Immunität: Impfung von Kindern entbehrt jeder Grundlage
Anthony Harnden, stellvertretender Vorsitzender des JCVI, stellte am Montag in der London Times klar: „Das Hauptziel des Impfprogramms war es immer, Krankenhausaufenthalte und Todesfälle zu verhindern. Aufgrund der Tatsache, dass gesunde Kinder, wenn sie an Covid-19 erkranken, äußerst wahrscheinlich eine sehr milde Form der Krankheit entwickeln, sind die Vorteile einer Impfung in dieser Altersgruppe als äußerst gering anzusehen“. Einige britische Wissenschaftler glauben sogar, dass angesichts der zahlreichen Ausbrüche in Schulen in den letzten Monaten die meisten Jugendlichen bis September immun gegen das Virus sein könnten, was eine Impfung unnötig macht.
Impfung vs. natürliche Immunität – das Immunsystem siegt
Prinzipiell kann von einer natürlichen und längerfristigen Immunität nach überstandener Covid-19 Infektion ausgegangen werden. Dies wird durch diverse Studien untermauert, beispielhaft zu nennen ist eine im September 2020 im medizinischen Fachjournal Nature veröffentlichte Studie. Hier wurden insgesamt mehr als 180 Probanden nach überstandener Covid-19-Erkrankung untersucht. Die im Rahmen der Studie identifizierten T-Zell-Epitope ermöglichten den Nachweis, dass bei 100 Prozent der Patienten nach Infektion T-Zell-Immunantworten gegen SARS-CoV2 erfolgt sind. Dies traf ausdrücklich auch auf Studienteilnehmer zu, bei denen keine Antikörper (mehr) im Blut nachweisbar waren. Für eine stabile natürliche Immunität nach Genesung spricht auch die Tatsache, dass sich Berichte über erneute Infektionen weltweit kaum finden lassen, sehr wohl aber unzählige Berichte über Geimpfte, die sich oder andere Personen ansteckten. Zuletzt sorgte die Infektionskette eines Falls in Israel für Aufsehen: Der „Times of Israel“ zufolge war ein junger Mann, der das Virus den Angaben nach auf einer Party an 83 weitere Personen verteilte, vollständig geimpft. Er steckte sich ebenfalls bei einer geimpften Person an, und diese Person hatte sich ebenfalls bei einer geimpften Person angesteckt, die sich mutmaßlich zuvor in London aufgehalten haben soll.
Massenimpfungen in anderen Ländern werden fehlende Daten für UK liefern
Anthony Harnden wies unterdessen auch auf die geringe Datenbasis zu Impfungen bei Kindern und Jugendlichen hin. „Die Vorteile durch verringerte Infektions-Übertragungen von geimpften Kindern auf die breitere Bevölkerung sind höchst umstritten, zumal die Impfstoffaufnahme bei älteren Menschen, die dem höchsten Risiko einer schweren Covid-19-Infektion ausgesetzt sind, sehr hoch ist.“. Er versprach außerdem, die Daten weiter zu überwachen, wobei die Massenimpfungen von Kindern in den USA, Israel und anderen Ländern vermutlich zeigen würden, wie häufig und wie schwerwiegend Nebenwirkungen wie Herzmuskelentzündungen letztendlich auftreten. Der Ausschuss zeigt sich aber grundsätzlich offen für die Empfehlung der freiwilligen Impfung von Kindern und Jugendlichen ab Herbst, sofern bis dahin „keine weiteren Probleme“ auftreten.
Javid verweist auf EMA Entscheidung: JCVI sieht unklare Datenlage
Der britische Gesundheitsminister Javid verwies auf eine Entscheidung der europäischen Regulierungsbehörde für Arzneimittel und Gesundheitsprodukte (EMA). Seitens der EMA sei die BioNTech-Pfizer-Impfung für über 12-Jährige freigegeben und empfohlen, das britische JCVI jedoch argumentiert, die aktive Impf-Empfehlung für Kinder bedürfe einer genaueren Datenlage. Ähnlich entschied unlängst auch die deutsche „Ständige Impfkommission“. Gesundheitsminister Javid nahm zur Entscheidung der JCVI wie folgt Stellung: „Zum aktuellen Zeitpunkt wird nicht empfohlen, Kinder unter 18 Jahren ohne zugrunde liegende Vorerkrankungen zu impfen. Aber das JCVI wird weiterhin neue Daten auswerten und prüfen, ob es zu einem späteren Zeitpunkt eine Impfung unter 18 Jahren auch ohne Vorerkrankungen empfehlen sollte.“
Sicherheit der Impfstoffe für Kinder völlig unklar – britische Expertin warnt
Helen Bedford, Professorin am University College London, äußerte sich gegenüber der London Times besorgt: „Gesunde junge Menschen und Kinder erkranken äußerst selten ernsthaft an Covid-19, daher hätte eine Impfung für sie nur wenige Vorteile, aber es würde möglicherweise dazu beitragen, die Immunität in der Bevölkerung zu erhöhen. Bevor wir allen Kindern und Jugendlichen eine Impfung empfehlen, müssen wir uns daher über die Sicherheit der Impfstoffe in dieser Gruppe äußerst klar sein. Obwohl es mittlerweile gute Studiendaten und Erfahrungen mit der Impfung vieler Erwachsener gibt und sich die Impfstoffe grundsätzlich als sicher erwiesen haben, können wir nicht automatisch davon ausgehen, dass dies auch für Kinder gilt. Weitere Informationen aus Studien und Erfahrungen mit der Anwendung dieser Impfstoffe bei jungen Menschen und Kindern sind dringend erforderlich, bevor die Impfung für diese Gruppe empfohlen werden kann“.
Streit zwischen Söder und „STIKO“ droht zu eskalieren
Unterdessen steigt der Impfdruck auf Kinder und Jugendliche in Deutschland fast ins Unermessliche. Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) fällt regelmäßig mit eigenmächtigen Impf-Empfehlungen für junge Menschen auf, dabei kann Söder (ähnlich wie der gelernte Bankkaufmann und deutsche Gesundheitsminister Jens Spahn, CDU) nicht auf eine medizinische Ausbildung oder vergleichbare Fachkenntnisse eines Gesundheitsberufs zurückgreifen. Vor einigen Tagen überraschte Söder mit der Aussage, die STIKO sei nur eine ehrenamtlich tätige Organisation und man müsse auf die EMA hören, „das sind die Profis“, so Söder. Die STIKO wies Söders Aussagen als „ungewöhnliche Einflussnahme“ zurück.
Deutsche STIKO nicht weniger „professionell“ als EMA
„Die aktuellen Aussagen von Herrn Söder und anderen Politikern zur STIKO und zu deren Arbeit sind auch unter Berücksichtigung der Wahlkampfzeit ungewöhnlich und müssen korrigiert werden“, so die Impf-Kommission des Robert-Koch-Instituts am vergangenen Freitag in einer Stellungnahme, die der F.A.Z. vorliegt. „Die STIKO ist ein unabhängiges Expertengremium, dessen Tätigkeit von den Mitarbeitern im Fachgebiet Impfprävention des Robert Koch-Instituts (RKI) maßgeblich unterstützt wird. Sie arbeitet entsprechend ihres gesetzlichen Auftrages transparent nach streng wissenschaftlichen Kriterien und ist dabei keinesfalls weniger ,professionell’ als die EMA.“ so der Wortlaut der Stellungnahme. Dem Diskurs liegen unterschiedliche Auffassungen der deutschen „Ständige Impfkommission“ gegenüber der europäischen EMA zu Grunde: Während die EMA Covid-19-Impfungen für Kinder ab 12 Jahren grundsätzlich und flächendeckend empfiehlt lehnt die STIKO dies mit Hinblick auf die unzureichende Datenlage als unbegründet und bis auf weiteres ab.
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