Taurin – ein beliebter Energy-Drink-Zusatz – verhilft Leukämie-Zellen zum Wachstum. Dies zeigen jüngst veröffentlichte Forschungsergebnisse. Der Energieschub trifft nämlich nicht nur gesunde Zellen, sondern auch Leukämie-Zellen. Kann diese neue Erkenntnis Menschenleben retten?
Viele Menschen greifen immer wieder zu den stark beworbenen Energy-Drinks. Die Werbung verspricht Energie und Ausdauer – dank Taurin, einem Wunderstoff der Natur. Was wohl fast alle Konsumenten nicht ahnen: Sollte er jemals an Blutkrebs erkranken, könnte genau diese Substanz seine Krankheit verschlimmern. Eine bahnbrechende Studie der University of Rochester deckt nun auf, wie Taurin – eigentlich ein harmloses Nahrungsergänzungsmittel – zur heimlichen Kraftquelle für Leukämie-Zellen wird.
Ein Energieschub mit Nebenwirkungen
Taurin ist überall. In Meeresfrüchten und Fleisch, in Sportgetränken und Nahrungsergänzungsmitteln. Die schwefelhaltige Aminosäure gilt als ungefährlich, ja sogar als gesundheitsfördernd. Millionen Menschen konsumieren sie täglich, ohne sich Gedanken zu machen. Doch die Forschung von Dr. Jeevisha Bajaj und ihrem Team wirft ein völlig neues Licht auf diese vermeintlich harmlose Substanz.
„Unsere Arbeit legt nahe, dass die Entwicklung und Erprobung wirksamer Hemmstoffe des Taurin-Transporters zu neuen therapeutischen Optionen bei diesen tödlichen Krebsarten führen könnte”, erklärt Bajaj, Assistenzprofessorin für Biomedizinische Genetik. Die unter dem Titel “Taurine from tumour niche drives glycolysis to promote leukaemogenesis” in der renommierten Fachzeitschrift “Nature” veröffentlichte Studie zeigt nämlich einen perfiden Mechanismus: Leukämie-Zellen kapern spezialisierte Transporter, um sich das für ihr Wachstum benötigte Taurin aus dem Knochenmark zu beschaffen – jenem Ort, wo Blutkrebs seinen Ursprung nimmt.
Knochenmark als unfreiwilliger Komplize
Die Forscher entdeckten mithilfe genetisch veränderter Mäuse ein interessantes Paradox. Spezielle knochenbildende Zellen, sogenannte Osteolineage-Zellen, steigern ihre Taurin-Produktion, je weiter die Leukämie voranschreitet. Es ist, als würden sie den Feind freiwillig mit Munition versorgen. Die Krebszellen können Taurin nicht selbst herstellen – sie sind vollständig auf diese externe Zufuhr angewiesen.
Einmal in der Krebszelle angekommen, entfaltet Taurin seine verhängnisvolle Wirkung. Es kurbelt die Glykolyse an, jenen Stoffwechselweg, über den Zellen Glukose in Energie umwandeln. Geradezu wie ein Turbolader verleiht es den Krebszellen die Kraft, sich schnell zu vermehren und im Körper auszubreiten. „Leukämie-Zellen sind unfähig, Taurin selbst zu produzieren, deshalb sind sie auf einen Taurin-Transporter angewiesen, um sich das Taurin aus der Knochenmarkumgebung zu holen”, erläutert Bajaj.
Die Folgen für Patienten
Die Erkenntnisse haben unmittelbare Auswirkungen auf die rund 12.000 Menschen, die in Deutschland jährlich an Leukämie erkranken. Die Laborexperimente zeigen nämlich das ganze Ausmaß der Bedrohung: Erhielten Leukämie-Zellen zusätzliches Taurin, beschleunigte sich das Tumorwachstum bei Mäusen dramatisch. Umgekehrt konnten Wissenschaftler das Krebswachstum verlangsamen oder sogar stoppen, indem sie Taurin daran hinderten, in die Krebszellen einzudringen.
Mehr noch: Die Analyse menschlicher Gewebeproben zeigte einen direkten Zusammenhang zwischen der Menge der Transporter-Proteine und der Schwere der Erkrankung. Patienten mit höheren Konzentrationen dieser Proteine hatten schlechtere Behandlungsergebnisse und zeigten größere Resistenz gegen Therapien – vor allem bei aggressiven Leukämie-Formen. Mäuse ohne das Transporter-Protein lebten 13,5 Prozent länger als Kontrollgruppen.
Ein Dilemma für die Behandlung
Ausgerechnet Taurin-Präparate werden Krebspatienten häufig empfohlen, um chemotherapiebedingte Erschöpfung und andere Nebenwirkungen zu lindern. Energy-Drinks mit Taurin erfreuen sich zudem besonders bei jungen Erwachsenen großer Beliebtheit – einer Altersgruppe, die auch immer mehr Leukämie-Patienten umfasst. „Taurin-Supplemente könnten das Fortschreiten der Krankheit bei immunkompetenten Mäusen erheblich beschleunigen”, warnen die Studienautoren. Und wenn man bedenkt, dass viele Leukämie-Erkrankungen erst sehr spät entdeckt werden, könnte ein regelmäßiger Konsum solcher Getränke den Progress unbemerkt beschleunigen.
Dr. Hoda Pourhassan, Hämatologin und Onkologin am City of Hope in Newport Beach, die nicht an der Studie beteiligt war, mahnt zur Vorsicht: „Es wäre vernünftig, die Taurin-Aufnahme bei Leukämie-Patienten zu begrenzen oder zumindest sorgfältig Risiken gegen Nutzen abzuwägen.” Die Komplexität der Krebsbiologie macht einfache Lösungen jedoch schwierig.
Neue Hoffnung durch gezielte Therapien
Doch die Entdeckung eröffnet auch völlig neue Behandlungsansätze. Indem die Forscher ein Enzym blockierten, das bei der Taurin-Herstellung in Knochenzellen hilft, konnten sie die Taurin-Konzentration im Knochenmark erheblich senken. Dies reduzierte sowohl die Anzahl krankheitsverursachender Zellen als auch das Rückfallrisiko. „Der wichtigste Erkenntnisgewinn dieser Studie ist, dass Taurin von Leukämie-Zellen genutzt werden kann, um das Krebswachstum zu fördern”, betont Bajaj.
Dr. Jane Liesveld, Onkologin am Wilmot Cancer Institute, sieht großes therapeutisches Potenzial: „Dr. Bajajs Arbeit zeigt, dass lokale Taurin-Konzentrationen im Knochenmark das Leukämie-Wachstum verstärken können.” Dies eröffne Türen zu neuen, zielgerichteten Behandlungen, während gleichzeitig Vorsicht bei hochdosierter Taurin-Supplementierung geboten sei.
Ein differenzierter Blick in die Zukunft
Die Forscher betonen ausdrücklich, dass ihre Erkenntnisse nicht bedeuten, Taurin verursache Krebs oder erhöhe bei gesunden Menschen das Leukämie-Risiko. Taurin ist eine natürlich vorkommende Aminosäure, die gesunde Erwachsene bei Bedarf effizient selbst produzieren können. „Ein ‘Taurin-Mangel’ ist selbst bei begrenzter Nahrungsaufnahme etwas, was wir normalerweise nicht beobachten”, erklärt Pourhassan.
Dennoch mahnt sie zur Besonnenheit: „Es wäre großartig, wenn sich die Ergebnisse dieser Studien auf ein einfaches ‘diese Substanz verursacht Krebs’ oder ‘diese Sache verhindert Krebs’ reduzieren ließen. Aber leider ist Krebs – und speziell Leukämie-Wachstum – unglaublich komplex.” Der Weg zu neuen Therapien, die gezielt den Taurin-Transport in Krebszellen blockieren, ist noch weit. Doch die Grundlagen sind gelegt für eine neue Generation von Medikamenten, die dem Krebs buchstäblich den Treibstoff entziehen könnten.