Nils Melzer war bis zum 31. März UN-Sonderberichterstatter für Folter und im Rahmen dieses Postens im vergangenen Jahr auf brutale Übergriffe der Polizei bei maßnahmenkritischen Demonstrationen in Berlin aufmerksam geworden. Am 30. Mai wurde nun sein Bericht dazu publiziert. Melzer diagnostiziert Deutschland Systemversagen – die Bundesregierung hielt eine Antwort auf seine schriftliche Analyse und die darin formulierten Fragen für unnötig.
Auf Twitter schrieb Melzer:
Seine Untersuchung zur Polizeigewalt in Deutschland hatte Melzer schon am 29. März ans Auswärtige Amt geschickt. Darin stellte er sieben Fragen – einerseits zu den im Bericht geschilderten Fällen, andererseits aber auch allgemein im Hinblick auf die Maßnahmen der Behörden zur Untersuchung und Verhinderung von Polizeigewalt, zur Entschädigung der Opfer, sowie zum „Überwachungsprogramm“ der Regierung für impf- und maßnahmenkritische Demonstranten. Dabei hakte er auch nach, inwiefern zwischen potenziell gewalttätigen Demonstranten und anderen Personen, die von ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit Gebrauch machen, unterschieden werden soll. Die 60-tägige Frist zur Veröffentlichung von Melzers Schreiben ließ man jedoch ohne Antwort verstreichen.
Obwohl das Fazit von Melzers Nachforschungen verheerend ist, dürfte die deutsche Regierung die Sache aussitzen: Melzer ist mittlerweile in das Direktorium des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) einberufen worden und von seinem UN-Amt zurückgetreten. Sein Dialog mit Berlin ist somit abgeschlossen. In seinem Schreiben erinnert Melzer zwar an die UN-Menschenrechtskonventionen und daran, dass jeder Fall von mutmaßlicher Polizeigewalt untersucht werden muss, doch ob dies tatsächlich geschehen wird, darf bezweifelt werden.
Darüber hinaus sind die Staaten verpflichtet, überall dort, wo hinreichender Grund zu der Annahme besteht, dass außerhaftliche Gewalt angewendet wurde, die Folter oder anderer grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung gleichkommt, unverzüglich eine unparteiische Untersuchung durchzuführen, um die volle Rechenschaftspflicht für eine solche Handlung sicherzustellen , einschließlich gegebenenfalls verwaltungs-, zivil- und strafrechtlicher Verantwortlichkeit, und um sicherzustellen, dass die Opfer angemessene Wiedergutmachung und Rehabilitierung erhalten.
Quelle (S.18)
Straffreiheit bei Polizeigewalt
Im April gab Melzer der „Welt“ bereits ein ausführliches Interview, in dem er seine Schlussfolgerungen aus seinen Untersuchungen und seinem Austausch mit der Bundesregierung erörterte. Diese befand, dass es in Deutschland kein „Muster übermäßiger Anwendung von Gewalt durch Polizeibeamte gegenüber Personen oder gegenüber Demonstranten“ gebe.
In Melzers Augen leiden die Behörden unter einer verzerrten Wahrnehmung. Die deutsche Rechtsordnung würde im Hinblick auf Polizeigewalt nicht umgesetzt werden, es scheint eine De-Facto-Straflosigkeit zu herrschen: Wenn überhaupt je Verfahren gegen Polizeibeamte eröffnet werden, bleiben diese laut Melzer monate- oder jahrelang irgendwo hängig und werden dann sang- und klanglos eingestellt, angeblich aus Beweismangel. Teilnehmer verbotener Versammlungen dagegen werden oft innerhalb von 24 Stunden verurteilt. Diese Ungleichbehandlung ist laut Melzer nicht zu rechtfertigen.
Er konstatierte: Das System funktioniert nicht. Dass in Deutschland praktisch keine Sanktionen wegen Polizeigewalt verhängt werden, sei keinesfalls ein Zeichen von Wohlverhalten – sondern von Systemversagen. Dass Polizeibeamte die Bürger nicht mehr als schutzbedürftige Zivilisten, sondern zunehmend als potenzielle Feinde und Terroristen betrachten, betrachtet er als gefährlich: Es sei nämlich nur eine Frage der Zeit, bis die Bevölkerung ihrerseits die Polizei als Feind wahrnimmt.