Bei den Gesprächen in der Türkei warnen die Taliban vor einem weiteren Massenexodus aus Afghanistan nach Europa. Wie viele Millionen werden es dieses Mal, die zu uns drängen? Wie viele werden die EU-Regierungen direkt einfliegen lassen?
Die Taliban haben während der laufenden Gespräche in Doha die Gesandten der USA und Europas gewarnt, dass fortgesetzte Sanktionen und politischer Druck der USA neue Flüchtlingswellen in Europa auslösen könnten.
„Afghanistans neue Taliban-Regierung hat die amerikanischen und europäischen Gesandten gewarnt, dass weitere Versuche, sie durch Sanktionen unter Druck zu setzen, die Sicherheit untergraben und eine Welle von Wirtschaftsflüchtlingen auslösen könnten“, schrieb die AFP über die Erklärung. Später in der Woche überbrachten die Taliban dieselbe Botschaft an die Türkei, die sich bei einer Migrationswelle aus Zentralasien an vorderster Front wiederfinden würde.
Der Taliban-Vertreter und amtierende Außenminister Amir Khan Muttaqi erklärte seinen westlichen Gesprächspartnern, dass „eine Schwächung der afghanischen Regierung in niemandes Interesse liegt, da sich die negativen Auswirkungen direkt auf die Welt im (Sicherheits-)Sektor und die Wirtschaftsmigration aus dem Land auswirken werden“.
Möglicherweise als Warnung und Drohung zugleich und in Erinnerung an die Migrantenkrise von 2015, die zu einem großen Teil durch den destabilisierenden Krieg in Syrien ausgelöst wurde, fügte Muttaqi die folgende Forderung hinzu:
„Wir fordern die Länder der Welt auf, die bestehenden Sanktionen zu beenden und die Banken normal arbeiten zu lassen, damit Wohlfahrtsverbände, Organisationen und die Regierung die Gehälter ihrer Mitarbeiter mit ihren eigenen Rücklagen und internationaler Finanzhilfe bezahlen können.“
Keine Anerkennung des Taliban-Regimes
Allerdings platzierte auch die Türkei keine Taliban-Flagge bei den Gesprächen, um so jeden Anschein einer diplomatischen Anerkennung des Taliban-Regimes zu vermeiden. (Anmerkung: Das lässt nachträglich auch neue Bewertungen zu, weshalb bei Merkel– und Maas-Besuchen bei Erdogan ebenso die Deutsche Flagge fehlte.)
Was die jüngsten „Zugeständnisse“ Washingtons anbelangt, so kündigte die Regierung Biden vor einigen Tagen an, dass die USA die humanitäre Hilfe „für das afghanische Volk“ wieder aufnehmen würden – allerdings unter der Bedingung, dass die Taliban kooperieren und ausländischen Staatsangehörigen die freie Ausreise aus dem Land gestatten. Die USA weigern sich jedoch nach wie vor, die Taliban-Herrschaft über das Land formell politisch anzuerkennen.
Hilfe, Investitionen und Sicherheit standen ganz oben auf der Liste der Anliegen, als sich die Taliban am Donnerstag in Ankara mit hochrangigen türkischen Beamten trafen. Da die Türkei seit langem die wichtigste regionale „Brücke“ zwischen Asien und Europa für den Migranten- und Flüchtlingsverkehr ist, ist die Frage der afghanischen Flüchtlinge für die türkische Regierung von größter Bedeutung.
Es wird erwartet, dass die Türkei den Schock einer kommenden Flüchtlingswelle aus Afghanistan zuerst zu spüren bekommt, da sie schon seit Jahren ein „Absprungpunkt“ für Afghanen ist, die sich auf die beschwerliche Reise nach Europa machen. Allein in den letzten zehn Jahren haben sich rund 600.000 Afghanen in der Türkei niedergelassen – während gleichzeitig eine große Welle syrischer Flüchtlinge das Land verließ, von denen sich viele immer noch an der Südgrenze der Türkei aufhalten (über 3 Millionen).
Vier Millionen Afghanen nach Europa?
Berichten zufolge baut die Türkei nun eine fast 300 km lange Mauer entlang der iranischen Grenze, um den Exodus aus Zentralasien physisch zu stoppen, wie die AFP zuvor berichtete. Doch Mauern werden keine Millionenscharen aufhalten. Und wenn nur zehn Prozent der rund 40 Millionen Afghanen sich auf nach Westen machen – was durchaus möglich ist – helfen auch keine Barrieren mehr.
Auf einer Pressekonferenz nach dem Treffen zwischen dem türkischen Außenminister und den Taliban erklärte Außenminister Cavusoglu, dass die türkische Seite zwar den Wunsch nach Reformen der Taliban im Bereich der Menschenrechte und in Bereichen wie der Bildung von Mädchen und der Beschäftigung von Frauen bekräftigt habe, das wichtigste Anliegen der Türkei jedoch die Stabilität sei.
Die Frage der Sicherheit, bei der die Türkei Unterstützung beim Schutz des internationalen Flughafens von Kabul angeboten hat, steht zweifellos in direktem Zusammenhang mit der Angst der Türkei und der Europäer vor einer neuen Migrantenkrise vor ihren Toren.
In seinen Erklärungen gegenüber der Presse schien Cavusoglu indirekt die US-Politik gegenüber den Taliban anzugreifen, indem er sagte, die Türkei werde nicht wie die USA und die EU auf „Vorbedingungen“ für „Inklusivität“ drängen, sondern wünsche sich vor allem ein sicheres afghanisches Umfeld.
Die EU schickt bereits Geld
In Brüssel will man offenbar Szenen wie 2015 vermeiden, als Millionen von Migranten völlig unkontrolliert über die Balkanroute nach Mittel- und Nordeuropa marschierten. Deshalb hat die EU-Kommission bereits eine Milliarde Euro an Finanzhilfen für Afghanistan angekündigt.
Es ist zu erwarten, dass viele europäische Regierungen vor allem darauf setzen werden, Migranten aus Afghanistan direkt aus den Camps in den Nachbarländern einzufliegen, um so nicht den Unmut der Bevölkerung zu wecken. Man befürchtet, mit einer neuen sichtbaren Migrationswelle erneut die Rechtsparteien in Europa zu stärken. Angesichts der bald anstehenden Wahlen in Frankreich mit Chancen für Marine Le Pen, die Präsidentschaft des Landes zu übernehmen, wäre dies für die Brüsseler Eurokraten eine Katastrophe.
Für die Menschen in Europa stellt sich also nicht die Frage „ob“ die Afghanen kommen, sondern eigentlich nur noch „wie viele“. Wenn man die bisherige Politik allerdings als Maßstab hernimmt, kann man von mehreren hunderttausend Personen ausgehen – wenn sie nicht zu mehreren Millionen losmarschieren und auf dem Landweg ankommen…