Unter jungen Erwachsenen breitet sich der Blinddarmkrebs aus. Eine sehr seltene Krebserkrankung, die mittlerweile Aufmerksamkeit erregt. Warum haben Millenials ein so massiv höheres Erkrankungsrisiko als frühere Generationen?
Als der „X-Men”-Schauspieler Adan Canto im Januar 2024 im Alter von nur 42 Jahren an einem Tumor im Blinddarm starb, rückte eine Krebsart ins Rampenlicht, die so selten ist, dass viele Ärzte sie nie zu Gesicht bekommen. Doch was zunächst wie ein tragischer Einzelfall wirkte, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als Teil eines beunruhigenden Trends: Blinddarmkrebs breitet sich unter jüngeren Erwachsenen mit einer Geschwindigkeit aus, die Onkologen weltweit aufhorchen lässt. Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache – und sie werfen Fragen auf, die weit über den kleinen, wurmförmigen Darmanhang hinausreichen.
Eine neue Studie in den Annals of Internal Medicine mit dem Titel “Birth Cohort Effects in Appendiceal Adenocarcinoma Incidence Across the United States” offenbart das erschreckende Ausmaß: Menschen, die Mitte der 1980er Jahre geboren wurden, haben ein viermal höheres Risiko für Blinddarmkrebs als die Generation der 1940er Jahre.
Wenn der Wurmfortsatz zum Verhängnis wird
Der Blinddarm – medizinisch Appendix vermiformis genannt – galt lange als evolutionäres Relikt ohne Funktion. Neuere Forschungen zeigen jedoch, dass dieser fingerdicke, sechs bis zehn Zentimeter lange Anhang des Dickdarms möglicherweise eine wichtige Rolle für die Darmgesundheit spielt. Ironischerweise kann genau dieses kleine Organ, das unserem Immunsystem helfen soll, selbst zum tödlichen Feind werden.
Forscher der Vanderbilt University analysierten Krebsregister-Daten von 1975 bis 2019 und identifizierten 4.858 Fälle von Blinddarmkrebs bei Erwachsenen ab 20 Jahren. Das Ergebnis zeichnet ein klares generationsspezifisches Bild: Während die Erkrankung mit etwa 1-2 Fällen pro Million Menschen noch immer selten ist, steigen die Raten jährlich um durchschnittlich 3,7 Prozent – deutlich höher als die typischen 1-2 Prozent bei anderen Krebsarten. „Wir sehen, dass Blinddarmkrebs am schnellsten bei Menschen unter 50 ansteigt”, erklärt Andreana Holowatyj, Molekularbiologin und klinische Epidemiologin am Vanderbilt University Medical Center und Mitautorin der Studie.
Der unsichtbare Killer: Warum die Diagnose meist zu spät kommt
Was Blinddarmkrebs besonders heimtückisch macht, ist seine Meisterschaft in der Tarnung. Die Symptome – anhaltende Bauchschmerzen, Blähungen, Beckenschmerzen und tastbare Massen im Bauch – ähneln harmlosen Verdauungsproblemen so sehr, dass selbst erfahrene Mediziner zunächst an alles andere denken. Holowatyjs Team befragte 352 Patienten und stellte fest, dass 77 Prozent bereits vor der Diagnose Symptome hatten, mehr als die Hälfte litt drei Monate oder länger.
Das fatale Dilemma: Es gibt weder etablierte Screening-Methoden noch Präventionsrichtlinien für Blinddarmkrebs. Koloskopien erfassen Tumore im Blinddarm nur selten, bildgebende Verfahren übersehen sie oft völlig – besonders wenn der Blinddarm nicht klar sichtbar ist oder der Krebs sich auf ungewöhnliche Weise präsentiert. Fast die Hälfte aller Patienten wird erst diagnostiziert, nachdem sich der Krebs bereits auf andere Organe ausgebreitet hat. „Als Millennial sage ich das meinen Altersgenossen: Wenn sich etwas falsch anfühlt, sprecht es an”, warnt Holowatyj. „Es ist besser, nachzuprüfen und falsch zu liegen, als zu warten und spät diagnostiziert zu werden.”
Das Rätsel der Generation: Umwelt, Gene oder beides?
Die Wissenschaft steht vor einem Puzzle, dessen Teile sich nur langsam zusammenfügen. Dass Menschen, die um 1980 geboren wurden, mehr als dreimal so häufig erkranken wie die Generation von 1945 und jene, die um 1985 geboren wurden, sogar viermal so oft, deutet auf einen sogenannten „Geburtskohorteneffekt” hin – ein Phänomen, bei dem Menschen derselben Generation langfristige Umwelt- oder Verhaltensexpositionen teilen, die das Krankheitsrisiko Jahrzehnte später prägen. Die Forscher fanden erhöhte Raten bei allen Haupttypen von Blinddarmtumoren, wobei Becherzell-Tumore, die fast ausschließlich im Blinddarm auftreten, bei der 1980er-Generation fünfmal häufiger vorkamen.
Gleichzeitig enthüllte eine separate Studie in JAMA Oncology einen möglichen genetischen Baustein des Rätsels: Mehr als jeder zehnte Blinddarmkrebs-Patient trägt eine krebsassoziierte Genmutation – ein Hinweis auf eine mögliche erbliche Komponente. Holowatyjs Labor arbeitet intensiv daran, die Ursachen für den Anstieg zu entschlüsseln, doch bislang gibt es kaum Fortschritte. „Es ist nicht nur das Alter, und es liegt nicht nur daran, dass wir mehr finden, weil wir intensiver suchen”, betont sie. „Wir verstehen die Ursachen noch nicht vollständig – aber genau deshalb brauchen wir mehr Forschung und Bewusstsein.”
Antibiotika statt Skalpell: Ein unerwartetes Dilemma
Ein weiterer Aspekt verkompliziert die ohnehin schwierige Diagnose: Während früher fast jede Blinddarmentzündung operativ behandelt wurde, setzen Ärzte heute vermehrt auf Antibiotika. Diese Entwicklung könnte jedoch zur Verzögerung von Krebsdiagnosen beitragen, denn die meisten Blinddarmtumore werden erst zufällig bei einer Blinddarmoperation entdeckt. „Antibiotika können Tumorzellen nicht beseitigen, falls sie vorhanden sind”, erklärt Holowatyj. „Wenn ein Tumor da ist, kann die nicht-chirurgische Behandlung einer Blinddarmentzündung eine ohnehin schwierige Diagnose weiter verzögern.”
Der Trend spiegelt eine breitere Verschiebung in Krebsmustern wider, die möglicherweise nicht auf den Blinddarm beschränkt ist, sondern aufkommende Risiken für die gesamte Magen-Darm-Gesundheit widerspiegelt. Ähnliche Anstiege zeigen sich bei anderen früh auftretenden Magen-Darm-Krebsarten, einschließlich Darm- und Magenkrebs bei jüngeren Erwachsenen. Diese Trends könnten mit Veränderungen in der Ernährung, dem Mikrobiom, Entzündungen, frühen Lebensexpositionen, seit 2021 auch mit den experimentellen mRNA-Genspritzen gegen Covid-19 oder noch unidentifizierten Umweltfaktoren zusammenhängen.
Auf der Suche nach Antworten: internationale Detektivarbeit
Internationale Kooperationen wie das Appendiceal Cancer Consortium arbeiten daran, gemeinsame Umwelt- und Lebensstil-Risikofaktoren zu identifizieren – von frühen Lebensexpositionen über Ernährung bis hin zu Entzündungen – die letztendlich Präventionsrichtlinien leiten könnten. „Wir müssen verstehen, ob das eine Geschichte ist – oder mehrere”, sagt Holowatyj. „Gibt es gemeinsame Expositionen, die den Magen-Darm-Trakt insgesamt betreffen? Oder steigen manche Krebsarten aus unterschiedlichen Gründen?”
Die Suche nach Antworten gleicht einer wissenschaftlichen Detektivarbeit, bei der jeder neue Fund weitere Fragen aufwirft. Was als statistischer Trend begann, entwickelt sich zu einer Untersuchung der komplexen Wechselwirkungen zwischen Genen, Umwelteinflüssen und anderen Faktoren – ein Puzzle, dessen Lösung nicht nur das Schicksal einer Generation, sondern möglicherweise unser Verständnis von Krebs selbst verändern könnte. Was mit dem tragischen Tod eines Schauspielers begann, hat sich als Weckruf für eine ganze Generation entpuppt.