Während der kollektive Westen Russland wegen des Einmarschs in die Ukraine mit beispiellosen Sanktionen belegt, ignoriert man die zig Millionen Todesopfer der US-Aggressionen der letzten Jahrzehnte. Haben wir eigentlich das Recht auf moralische Empörung? Ein Kommentar zum Sonntag und zum Jahrestag der russischen Invasion.
Ein Kommentar von Heinz Steiner
Ein Jahr lang dauert nun schon die russische Militäroperation in der Ukraine an. Ein Einmarsch, der weitestgehend auf die Ereignisse ab dem Jahr 2014, mit dem US-geführten Regime-Change in Kiew durch die sogenannte “Maidan-Revolution” als Initiator, zurückzuführen ist. Über die Zahl der Todesopfer kann nur spekuliert werden. Waren es seit dem Putsch in Kiew bis zum Einmarsch der russischen Truppen wohl so 14.000 bis 15.000 zivile Todesopfer infolge des Beschusses des Donbass und der abtrünnigen Gebiete durch die ukrainischen Verbände, hat sich diese Zahl seit Ende Februar 2022 deutlich erhöht. Zehntausende Zivilisten dürften in den letzten Monaten infolge der Kampfhandlungen gestorben sein, dazu noch wohl 200.000 bis 300.000 ukrainische und 100.000 bis 200.000 russische Soldaten.
Doch so grausam dieser Krieg auch sein mag, was man der russischen Führung bislang zugutehalten muss, ist der Versuch, die zivilen Opferzahlen so niedrig wie möglich zu halten. Im Gegensatz beispielsweise zum Irakkrieg, wo die Amerikaner großflächige Bombardierungen durchführten und Städte in Schutt und Asche legten, konzentrieren sich die russischen Truppen auf militärische Ziele. Kritik wird am Beschuss der zivilen Infrastruktur (Strom- und Wasserversorgung) geübt, allerdings hat dies die NATO auch in Jugoslawien getan, und auch im Irak wurde diese von den US-Truppen umfangreich vernichtet, um den Widerstand zu brechen.
Doch das ist noch lange nicht alles. Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges haben die Vereinigten Staaten bei ihren Kriegen und Militäroperationen in insgesamt 37 Ländern rund 20 bis 30 Millionen Menschen getötet. Ein nicht unerheblicher Teil davon Zivilisten, die von konventionellen Bomben zerfetzt, von Napalm und Phosphorbomen verbrannt und bei Feuergefechten erschossen wurden. Der Korea- und der Vietnamkrieg, sowie der Golfkrieg und die zwanzigjährige Besatzung Afghanistans haben hierbei den größten Blutzoll gefordert. Viele weitere kleinere Interventionen kommen noch hinzu.
Kriege und militärische Interventionen sind immer eine Ursache von unermesslichem menschlichen Leid. Völlig unabhängig davon, wer die Konfliktparteien sind. Und vielleicht gehören Kriege und bewaffnete Auseinandersetzungen einfach auch zur menschlichen Natur. Doch wir maßen uns an, “zivilisierter” zu sein als unsere Ahnengenerationen vor uns. Aber sind wir das wirklich?
Aufgeputscht von den NATO-Propagandamedien verdammen die Menschen im Westen Russland. Dies, ohne die ganzen Hintergründe der permanenten Provokationen zu kennen – und dabei ignoriert man geflissentlich die blutige Bilanz der US-amerikanischen bzw. US-geführten Kriege und Interventionen der letzten Jahrzehnte. Ganz zu schweigen von den unzähligen Kriegsverbrechen, die im Namen von “Freiheit und Demokratie” von westlichen Soldaten begangen wurden. Provokant gefragt: Liegt der schiefe Blickwinkel daran, dass es sich bei den Opfern meist “nur” um Menschen mit anderen Hautfarben und Religionen handelt, die weit weg leben (und wegen all des Chaos dann ihren Weg nach Europa suchen)? Hellhäutige, blonde Ukrainer(innen) scheinen da deutlich höher zu stehen und als Flüchtlinge willkommen zu sein. Ist das nicht irgendwie etwas rassistisch?
Mehr als 20 Millionen Todesopfer durch US-Interventionen und keine Aufrufe zu massiven Sanktionen gegen Washington. Warum nicht? Sind wir “Westler” denn tatsächlich immer “die Guten”? In all der aufgeheizten Stimmung wegen des Krieges in der Ukraine sollten wir nicht vergessen, dass westliche Staaten, was Kriege und militärische Interventionen betrifft, wohl auch nicht besser – oder noch schlimmer – sind. Haben “wir” also das Recht, Moralapostel zu spielen?