1469 zu 110, so groß sei der Unterschied der Inzidenz zwischen Ungeimpften und Geimpften, erklärte jüngst der bayerische Machthaber Markus Söder (CSU) auf Twitter. Doch Recherchen der WELT unter dem Titel „Pandemie der Unwissenden“ beweisen: Söder sprach offenbar nicht die Wahrheit. Die zitierte Zählweise des Ministerpräsidenten ist gravierend verfälscht und entbehrt jeglicher wissenschaftlichen und statistischen Grundlage. Erneut wird deutlich: Das Narrativ der „Pandemie der Ungeimpften“ ist nicht haltbar.
Von Max Bergmann
Über das soziale Netzwerk Twitter meldete sich Ministerpräsident Markus Söder am 18. November zu Wort. Den Mikroblogging-Dienst nutzt er regelmäßig, um seine Follower mit der Verbreitung von propagandistisch anmutenden Schreckensmeldungen in Angst zu versetzen. „Leider nehmen die Corona-Infektionen gerade bei Ungeimpften dramatisch zu. Es gibt einen direkten Zusammenhang von niedrigen Impfquoten und hohen Infektionsraten. Lassen Sie sich daher bitte impfen. Nur Impfen hilft.“ Er untermalte seine Behauptung mit einer Grafik, nach der die Sieben-Tage-Inzidenz der Ungeimpften bei 1469 läge und die der Geimpften bei gerade mal 110. Ein dramatischer Unterschied, sollte man meinen. Doch Recherchen des WELT-Reporters Tim Röhn beweisen: Die Zählweise ist in höchstem Maße falsch und unwissenschaftlich.
Impfstatus „unbekannt“ für Söder mit „ungeimpft“ gleichbedeutend
Wie nun bekannt wurde, kennt das Bayerische Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL) offenbar in sehr vielen Fällen den Impfstatus von positiv auf das Coronavirus getesteten Personen überhaupt gar nicht. Diese Daten scheinen regelmäßig nicht übermittelt zu werden. Statt nun aber sachlich und korrekt diese Zahlen als „unbekannter Impfstatus“ auszuweisen, wurden diese Fälle kurzerhand als „Ungeimpfte“ eingruppiert – selbstverständlich, ohne über diesen Missstand aufzuklären. Söder verlor hierüber kein Wort, stellte stattdessen abermals ungeimpfte Mitmenschen an den Pranger, bar jeglicher wissenschaftlicher Fakten- und Datenlage. Gleichzeitig erhöhte er den Druck auf Ungeimpfte weiter und forderte erneut eine allgemeine Impfpflicht – sogar für Kinder und Jugendliche ab 12 Jahren.
Gravierende Schieflage: Inzidenz der Ungeimpften in höchstem Maße verfälscht
Diese fehlerhafte Zählweise scheint ganz offenbar zum einen kein Einzelfall zu sein, zum anderen ist sie gravierender als man vielleicht denken mag. Einem Behördensprecher nach wurden beispielsweise für die Woche vor dem 24. November insgesamt 81.782 Fälle positiver Tests gemeldet. Davon hatten 9641 Personen den sogenannten vollständigen Impfschutz, 14.652 waren den Daten nach ungeimpft und bei ganzen 57.489 Personen war der Impfstatus schlichtweg „unbekannt“. Diese 57.489 positiven Testergebnisse mit unbekanntem Impfstatus wurden dann aber laut LGL der Gruppe der Ungeimpften zugerechnet – mit erheblichen Folgen für die Berechnung und die Höhe des Inzidenzwertes für Ungeimpfte. In Bayern sind derzeit 67,1 Prozent der Bevölkerung (Stand: 3.12.2021) vollständig geimpft. Schon allein der Statistik wegen ist davon auszugehen, dass ein erheblicher Anteil der 57.489 Positivtests ohne übermittelten Impfstatus ebenfalls von Geimpften stammte. Gegenüber der WELT bestätigte außerdem ein Sprecher des Hamburger Senats, auch in der norddeutschen Hansestadt wende man das identische System zur Berechnung des Inzidenzwerts für Ungeimpfte an. Nicht unwahrscheinlich ist, dass diese Praxis flächendeckend Anwendung findet und der Inzidenzwert für Ungeimpfte in vollem Bewusstsein in die Höhe manipuliert wird.
Opposition im Landtag stinksauer: FPD fordert „rückhaltlose Aufklärung“
Während die Regierungsparteien CSU und Freie Wähler sich gekonnt bedeckt halten, hagelt es Kritik aus der bayerischen Opposition. Martin Hagen, FDP-Fraktionschef im Bayerischen Landtag, forderte in der WELT eine „rückhaltlose Aufklärung“. Er kritisierte scharf und eindeutig: „Der Verdacht, dass staatliche Behörden der Öffentlichkeit mit verzerrten Statistiken bewusst ein falsches Bild vermitteln, wiegt schwer.“ Gerichtet an den Ministerpräsidenten Markus Söder äußerte der Liberale außerdem einen schrecklichen Verdacht: „Wusste Söder, dass die Zahlen, mit denen er seine Politik begründet, manipuliert sind?“ Sollte sich dies bewahrheiten wäre dies ein neuer Höhepunkt in der Eskalation und dem Streit um eine mögliche allgemeine Impfpflicht gegen SARS-CoV2.
„In alte Muster verfallen“ – Inzidenzwert ungeeignet zur Beurteilung der pandemischen Lage
Zahlreiche Experten betonen, die steife Verkrampfung auf den Sieben-Tage-Inzidenzwert der gemeldeten Positivtests sei zur Beurteilung der pandemischen Lage nicht geeignet. So bildet der Wert weder die Lage auf Intensivstationen ab, noch gibt er an, ob und wie viele Menschen tatsächlich auch erkrankt sind. Dennoch hält die Politik weiter an diesem nicht geeigneten Verfahren fest, Zwangsmaßnahmen zu beschließen oder diese zu verlängern. In Bayern waren Bars und Clubs beispielsweise nach fast 1,5 Jahren Zwangspause kaum 8 Wochen unter 2G-Bedingungen geöffnet, bis diese nun wieder schließen mussten. Ab einem Inzidenzwert von 350 ist Schicht im Schacht für sogenannte Tanzlustbarkeiten. Philipp Schleef, Betreiber mehrerer Clubs in Bayern, erklärte gegenüber der WELT: „Ein technisch hochgerüsteter Laden wie eine Diskothek kann nicht ohne Weiteres von heute auf morgen eröffnet werden.“ Ein ständiges Auf und Zu sei für seine Branche „tödlich“. Der Regierung wirft er vor, in alte Muster zu verfallen – schließlich sei lange davon geredet worden, die Bewertung der pandemischen Lage von der Inzidenz zu entkoppeln.