Aufarbeitungs-„Studie“ zu Schulschließungen: Das unwürdige „Durchwurschteln“ der Politik

Bild: Canva

Die Folgen der Corona-Maßnahmen für Kinder und Jugendliche werden beim Blick auf heillos überlastete Psychiatrien für junge Menschen überdeutlich. Dass mit fünf sozialwissenschaftlichen Studien in Österreich der Eindruck erweckt werden soll, man habe die massiven Fehler der Corona-Politik analysiert und aufgearbeitet, wirkt mehr als beschämend, wenn man die Fallstudien sichtet. Die GGI-Initiative nahm die Arbeit zu Distance Learning und Schulschließungen unter die Lupe: An dem, was den Kindern angetan wurde, besteht darin wenig Interesse – man erörtert in der Studie vornehmlich das „Durchwurschteln“ der politischen Entscheidungsträger, fordert aber keine echten Konsequenzen.

Corona-Aufarbeitung: „Durchwurschteln“ statt Expertise

Presseaussendung der GGI-Initiative

Am 21.12.2023 präsentierte eine Delegation unter Bundeskanzler Nehammer die Ergebnisse der von der Regierung beauftragten offiziellen Corona-Aufarbeitung unter Federführung der Akademie der Wissenschaften (ÖAW), mit dem Titel „Nach Corona – Reflexionen für zukünftige Krisen“. Fünf sozialwissenschaftliche Studien wurden dazu seit Mai 2023 durchgeführt. Die GGI-Initiative thematisiert in dieser Aussendung Fallstudie Nummer 3 zu Distanzunterricht und Schulschließungen. Die Handlungsmaxime der Regierung in diesem Bereich lautete demnach „Durchwurschteln“ bzw. „muddling through“, denn diese Begriffe kommen 24-mal in der betreffenden Ausarbeitung vor.

In vergangenen Aussendungen hat die GGI-Initiative bereits zwei Fallstudien im Rahmen der von der Regierung beauftragten „Corona-Aufarbeitung“ analysiert. [1] [2] Nachfolgend betrachten wir Fallstudie Nr. 3 zu Distance Learning und Schulschließungen (Holtgreve & al). [3] Was ist von einer Studie zu halten, in der auf 16 Seiten gezählte 24-mal der Begriff “Durchwurschteln” bzw. auf Englisch „muddling through“ verwendet wird, um die Entscheidungsfindung der Regierung zu beschreiben?

Wie kamen die Forschenden zu ihren Ergebnissen? Sie untersuchten aus der Zeit von März 2020 bis Juni 2022 379 Artikel aus sechs österreichischen Printmedien, drei Zeitungen aus dem deutschsprachigen Ausland sowie die Aussagen auf fünf Pressekonferenzen und in 17 Fernsehinterviews. Darüber hinaus führten sie eine Sekundäranalyse der Ergebnisse des Austrian Corona Panel Project (ACPP) durch. Und dazu werteten sie 20 ein- bis zweistündige qualitative Interviews mit von ihnen ausgewählten Experten aus.

Isolierte Betrachtung

„Festzuhalten ist schon einmal, dass die Studie keine Evaluation der österreichischen Schulpolitik in der Pandemie darstellt. Wir rekonstruieren das „Was“ und das „Wie“ der Entscheidungsprozesse und Strategien und zeigen die nichtintendierten Konsequenzen auf.“

Schon allein dieser Ansatz irritiert. Es wird nicht evaluiert, wie die Schulen durch die Pandemie kamen und welch langfristig negative Auswirkungen die Schulmaßnahmen (bis zu 195 Tage geschlossene Schulen, Maskenpflicht von Mai 2020 bis Februar 2022, umfassendes Testregime) auf die Kinder und Jugendlichen hatten, sondern wie die Politik zu ihren Entscheidungen kam. Die unmissverständliche Antwort darauf ist eben „Durchwurschteln“, etwas professioneller ausgedrückt, ein „nicht konsistent von Evidenz, direkter Planung und Strategie geleiteter, sondern eher inkrementeller (schrittweiser) Entscheidungsmodus“. Für diese Erkenntnis hätte es aber wahrlich keiner teuren und aufwendigen Studie von Wissenschaftlern bedurft. Dazu hätte man nur betroffene Schulleiter, Lehrer, Schüler oder Eltern befragen müssen, die sich mit der Umsetzung unzähliger widersprüchlicher oder einfach unsinniger Verordnungen und Vorgaben konfrontiert sahen. [4] [5] [6] [7] [8]

Epidemiologie sticht Sozialwissenschaften

“Innerhalb der Epidemiologie und Simulationsforschung galten Schulschließungen deswegen als hoch wirksam, um Infektionskurven schnell abzuflachen – bei kurzfristig überschaubaren (und vielfach von den Familien getragenen) Kosten.“

Laut der Studie wurde sowohl medial als auch von Experten des Bildungsministeriums wie auch von Kinderärzten und anderen Initiativen bereits ab Sommer 2020 darauf hingewiesen, dass sich Schulschließungen gesamtgesellschaftlich negativ auswirken würden. Die Politik ließ sich aber weiterhin von Epidemiologen und Modellierern beraten, die auf hochgerechnete Infektionszahlen abstellten. Der damals zuständige Bildungsminister Heinz Faßmann habe sich mit seiner Präferenz für das Offenhalten von Schulen nicht durchsetzen können.

Man stelle sich vor, ein Minister für Bildung, Wissenschaft und Forschung, oberster Chef von über 50.000 Universitätslehrenden, schafft es nicht, kompetente bildungs- und sozialwissenschaftliche Experten beizustellen, die den Entscheidungsträgern im Bundeskanzleramt klar machen, dass sie mit ihrem epidemiologischen Tunnelblick enorme Kollateralschäden verursachen? Was für ein ministerielles Versagen. Wohl als Belohnung dieser Schwäche wurde er später zum Präsidenten der mit der Corona-Aufarbeitung betrauten ÖAW berufen.

Eindimensionale Funktion von Schule

„Um Wirkung zu entfalten, hätten die vorhandenen Zahlen, etwa zu den langfristigen Kosten von Kompetenzverlusten, vermutlich ein stärkeres Bekenntnis der Gesamtregierung zur Inklusions- und Sozialintegrationsfunktion von Schulen gebraucht. Das verweist auf die Frage der Relevanz und Geltung von Argumenten.“

Im Grunde heißt das nichts anderes, als dass die Regierung bei ihrer Entscheidungsfindung ökonomische und epidemiologische Interessen und Argumente viel schwerer gewichtete als bildungsökonomische, entwicklungspsychologische oder soziologische. Der Blick auf Infektions- und undurchsichtige Krankenhausbelegungszahlen verstellte jenen auf die langfristigen Folgen für unsere Jugend. Die Funktion von Schule als Sozialisationsraum, als Ort der Kompetenz- und Chancenentwicklung von Kindern und Jugendlichen, als wichtiger Faktor der ganzheitlichen physischen und psychischen Gesundheit der Schüler wurde bei den Aushandlungsprozessen – wider besseres Wissen – massiv vernachlässigt.

Vom Infektionsherd zur Datenquelle

„Zum anderen war das Bildungsministerium bestrebt (in seiner Rolle als Wissenschaftsministerium), mit Testregimes in den Schulen und Abwasserkontrollen Evidenzen zu mobilisieren, welche die Schulen aus wahrgenommenen Infektionsrisiken in Datenquellen verwandelten.“

Um die Schulmaßnahmen mit dem kostenintensiven Testregime zu legitimieren, wurden Schulen als riesige Datenquellen herangezogen. Mit diesem Argument wurde es offensichtlich einfacher, die Schulen offenzuhalten. Sie wurden durch flächendeckende, engmaschige Tests und Abwasseranalysen ab dem Frühjahr 2021 zu kommunizierten Datenquellen statt zu Infektionsherden.

Conclusio

„Es kommt also – etwas überspitzt formuliert – darauf an, intelligent, offen und umsichtig zu wurschteln. Johnston, Low, & Wilson (2012) nennen dies „skillful incrementalism“.

In zukünftigen Krisen sollten gemäß der ÖAW-Studie die Sozial- und Bildungswissenschaften eine gewichtigere Rolle übernehmen und Experten aus Bildungswissenschaften, Public Health oder Pädiatrie als Anwälte der Kinder und Jugendlichen verstärkt gehört werden.

Um dem Ganzen etwas Positives abzugewinnen, schlagen die Studienautoren vor, die Krisenbetroffenheit nicht so defizitorientiert zu kommunizieren. Es sei gut und notwendig, den Kindern und Jugendlichen Zuversicht und Wertschätzung für das von ihnen selbst Geleistete zu vermitteln und sie zukünftig auch in Krisenzeiten als „Betroffene“ partizipativ in Entscheidungen einzubinden.

Fromme Wünsche, die in unseren Augen etwas an der Realität vorbeigehen. Denn vorerst geht es für viele um die Gesundung, um die Wiedergewöhnung an Strukturen und Gemeinschaft, was oft nur mit therapeutischer Hilfe möglich ist. Aber die Wartelisten von kompetenten Therapeuten sind unendlich lang, Kinder- und Jugendpsychiater kaum zu finden.

Wir fordern, nach den Erfahrungen der letzten Jahre, ein uneingeschränktes Bekenntnis der Politik, Schulschließungen niemals wieder zur Bekämpfung einer Gesundheitskrise zu missbrauchen.

Exkurs: Chronologie lt. Fallstudie 3

  • Schulen ab 16. März 2020 zwischen 125 (Volksschulen) und 195 Tagen (Sekundarstufe) vollständig oder teilweise geschlossen (OECD-Schnitt 78 bzw. 101 Tage)
  • Ab Mai 2020 „Schichtunterricht“ mit geteilten Klassen, Maskenpflicht, gestaffelt = Vorrang der Matura- und der Lehrabschlussklassen, dann jüngere Kinder. Oberstufen bis Anfang Juni in Distanzunterricht
  • Ab 3. November 2020 Oberstufen wieder in Distanzunterricht, ab 17. November alle Schüler
  • Ab 2. Dezember 2020 Öffnung der VS und Unterstufen (mit Ausnahme der Oberstufen)
  • Nach Weihnachten wieder Distanzunterricht für alle
  • Ab 6. bzw. 13. Februar 2021 Schichtbetrieb und Testungen
  • Ab 1. April „harter Lockdown“ in Ostösterreich, ab 18. April Schulöffnung in Bgld., ab 26. April in Wien und Niederösterreich
  • Erst ab 17. Mai 2021 für Oberstufe wieder Präsenzunterricht mit drei Tests pro Woche und Maskenpflicht
  • Im November 2021 grundsätzlich offene Schulen, aber geschlossene Klassen, bei zwei oder mehr infizierten Schülern
  • Mitte Februar 2022 endet die Maskenpflicht in den Schulen, und ab 28. Februar gilt wieder Anwesenheitspflicht
  • Massentests in Schulen werden im April 2022 eingestellt

Quellenangaben

[1] Anonym. Corona-Aufarbeitung: oberflächlich und verfehlt. Grüner Verein für Grundrechte und Informationsfreiheit, 2023. online: https://ggi-initiative.at/wp/pm-86-corona-aufarbeitung-oberflaechlich-und-verfehlt

[2] Anonym. Corona-Aufarbeitung: Feindbild Wissenschaftsskepsis. Grüner Verein für Grundrechte und Informationsfreiheit, 2023. online: https://ggi-initiative.at/wp/pm-87-corona-aufarbeitung-feindbild-wissenschaftsskepsis

[3] Holtgreve & al. Fallstudie 3: Zum politischen Umgang mit Zielkonflikten II: Distance Learning/Schulschliessungen. In: Bogner A (Hrsg). Nach Corona – Reflexionen für zukünftige Krisen. Österreichische Akademie der Wissenschaften, 2023. Online: https://www.bundeskanzleramt.gv.at/dam/jcr:0668fa51-0122-4efe-a49e-6270a3a05840/82a_1_bei_NB.pdf

[4] Anonym. Schule und Corona. Erfahrungen einer Wiener Gym-Lehrerin. Grüner Verein für Grundrechte und Informationsfreiheit, 2023. online: https://ggi-initiative.at/wp/2024/01/09/schule-und-corona-erfahrungen-einer-wiener-gym-lehrerin/

[5] Anonym. Schulschließungen – ein Fehler mit gravierenden Folgen. Grüner Verein für Grundrechte und Informationsfreiheit, 2023. online: https://ggi-initiative.at/wp/pm-36-schulschliessungen-ein-fehler-mit-gravierenden-folgen/

[6] Anonym. Gedanken zur Corona Aufarbeitung aus psychologischer Sicht. Grüner Verein für Grundrechte und Informationsfreiheit, 2023. online: https://ggi-initiative.at/wp/pm-17-gedanken-zur-corona-aufarbeitung-aus-psychologischer-sicht/

[7] Anonym. Behinderte Kinder und Jugendliche in der Pandemie. Grüner Verein für Grundrechte und Informationsfreiheit, 2023. online: https://ggi-initiative.at/wp/pm-13-zum-welt-down-syndrom-tag-behinderte-kinder-und-jugendliche-in-der-pandemie/

[8] Anonym. Entrechtete Kinder und Jugendliche in der Corona-Krise. Grüner Verein für Grundrechte und Informationsfreiheit, 2023. online: https://ggi-initiative.at/wp/pm-9-entrechtete-kinder-und-jugendliche-in-der-corona-krise/

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