In den letzten Wochen, mit der erneuten Verschärfung der Ukraine-Krise, wurde immer wieder ein Schreckgespinst an die Wand gemalt: Das Ende der Gasversorgung Europas aus Russland. Doch wird es so weit kommen?
Eine der wichtigsten Fragen, die durch die Krise an den Grenzen der Ukraine aufgeworfen wurde, ist die Zukunft der europäischen Gasversorgung. Während die Gespräche im vergangenen Monat scheiterten, warnte der russische Staatskonzern Gazprom vor den niedrigen Gasvorräten in den europäischen Speichern. Die USA und Europa haben unterdessen gedroht, dass die Sanktionen auch den Abbruch von Nord Stream 2 umfassen könnten, falls Russland nicht nachgibt und seine Truppen nicht von der ukrainischen Grenze abzieht. Dabei handelt es sich um eine mehr als 1.200 Kilometer lange Pipeline, die Russland und Deutschland verbindet und das Potenzial hat, 26 Millionen Haushalte zu versorgen sowie den größeren nordwesteuropäischen Gasmarkt zu unterstützen. Die Pipeline ist bereits fertiggestellt, wurde aber noch nicht von der deutschen Energieregulierungsbehörde zertifiziert.
Die Daten über den Grad der Abhängigkeit von russischem Gas sind aufgrund der Auswirkungen der Lockdowns im Jahr 2020, die die Nachfrage drückten, verwirrend. Nach Angaben des Oxford Institute for Energy Studies (OIES) lieferte Russland im Jahr 2021 etwa 35 Prozent des nach Europa (definiert als das Vereinigte Königreich und die 27 EU-Staaten) importierten Gases, etwa 31 Prozent in Form von Pipelinegas und 4 Prozent in Form von Flüssigerdgas (LNG). Alle fragen sich, was passiert, wenn Russland im Winter den Gashahn zudreht.
Trotz der offensichtlichen Besorgnis scheint unter Experten jedoch der Konsens zu sein, dass es höchst unwahrscheinlich ist, dass eine der beiden Seiten den Fluss von Erdgas nach Europa unterbrechen will. Die Erdgaslieferungen Russlands – und davor der Sowjetunion – nach Europa haben eine dauerhafte gegenseitige Abhängigkeit geschaffen, die viele geopolitische Erschütterungen überstanden hat: Beispielsweise die sowjetische Invasion in Afghanistan 1979, die Ausrufung des Kriegsrechts in Polen in den 1980er Jahren, den Fall der Berliner Mauer 1989, den Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 und zuletzt die Krim-Krise 2014. Beide Seiten haben immer wieder erklärt, dass sie bei einer Unterbrechung des Gasflusses zu viel zu verlieren haben.
Im Moment erfüllt Russland seine langfristigen vertraglichen Verpflichtungen zur Lieferung von Gas. Es tut nicht mehr als das – was die Frage aufwirft, ob es eine bewusste Strategie gibt, um sicherzustellen, dass die Lagerbestände niedrig und die Preise hoch bleiben, was für Gazprom ein gutes Geschäft ist. Aber ein Bruch dieser Verträge würde für Russland einen finanziellen, rechtlichen und rufschädigenden Schaden bedeuten. Es ist wichtig zu bedenken, dass Russland das Geld auch braucht. Etwa 75 Prozent der Einnahmen von Gazprom stammen aus diesen Exporten – und Gazprom braucht diese Einnahmen, um Gas zu einem niedrigeren Preis an die inländischen Verbraucher liefern zu können. Nach Angaben des OIES machen die Gasexporte etwa 6 Prozent der Steuereinnahmen der russischen Regierung aus – weit weniger als durch Öl, aber kein unerheblicher Betrag. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass sie das tun wollen.
Was Europa betrifft, so ist es unwahrscheinlich, dass sich die Sanktionen gegen die Erdgasströme richten. Dies könnte die ohnehin schon schwierige Situation noch verschärfen, die die Preise aufgrund der nervösen Märkte in die Höhe getrieben hat. Eine Unterbrechung der derzeitigen russischen Gaslieferungen könnte zu Stromausfällen in Teilen Europas führen, die in hohem Maße von russischen Gaslieferungen abhängig sind. Dies wäre also ein Eigentor für Europa. Sanktionen können oft ein zweischneidiges Schwert sein, das den Ländern, die sie verhängen, ebenso schadet wie dem beabsichtigten Ziel der Sanktionen. Dies ist auch ein Grund, warum sich die Europäer wohl völlig gegen einen Ausschluss Russlands aus SWIFT sträuben werden. Ohne die Interbanken-Verbindung könnten die Europäer ihre Gasrechnungen nämlich nicht mehr bezahlen (außer sie würden beispielsweise tonnenweise Bargeld nach Moskau einfliegen lassen). Dies wäre also quasi ein Schuss ins eigene Knie. Würden die Europäer das wirklich riskieren?