Im Libanon drohen die Unruhen in einen Bürgerkrieg umzuschlagen, nachdem mehrere Demonstranten in der Hauptstadt Beirut von Unbekannten erschossen wurde.
Mindestens sechs Menschen wurden am vergangenen Donnerstag in Beirut durch Schüsse getötet, als Demonstranten die Absetzung des leitenden Ermittlers im Zusammenhang mit der Explosion in den Docks im vergangenen Jahr forderten. Die Kundgebung wurde von zwei schiitischen Muslimgruppen, der Hisbollah und Amal, organisiert. Weitere mindestens 30 Menschen liegen teils schwer verletzt im Krankenhaus, nachdem im Beiruter Stadtteil Tayouneh schweres Waffenfeuer gemeldet worden war.
Die Angst vor einem Bürgerkrieg wächst
Das libanesische Fernsehen zeigte Bilder von nicht identifizierten Männern, die Gewehre und schwere Waffen trugen. Die libanesische Armee erklärte, die Schüsse hätten die Demonstranten getroffen, als sie eine Straßenkreuzung nahe der Schnittstelle zwischen christlichen und schiitischen Vierteln passierten. Die Armee rief die Zivilbevölkerung auf, das Gebiet zu evakuieren, und warnte, sie werde das Feuer auf jeden eröffnen, der scharfe Munition abfeuert.
Premierminister Najib Mikati rief zur Ruhe auf und warnte vor Versuchen von Provokateuren, den Libanon in seine gewalttätige Vergangenheit zurückzuversetzen. Zwischen 1975 und 1990 wurde der Libanon durch einen konfessionellen Bürgerkrieg zerrissen, in dem maronitische Christen gegen schiitische und sunnitische Muslime und deren palästinensische und drusische Verbündete kämpften.
Hisbollah und Amal gaben am Donnerstag eine gemeinsame Erklärung ab, in der sie „unsere Anhänger aufrufen, Ruhe zu bewahren und nicht auf böswillige Provokationen hereinzufallen“, und warnten, dass der Angriff auf die Demonstranten darauf abziele, „das Land in einen Zwiespalt zu stürzen“. Entsprechende Meldungen werden bereits auf Twitter lanciert:
Analysten warnen bereits, dass dieses Szenario jenem auf dem Maidan-Platz in Kiew (Ukraine) ähnelt, wo Scharfschützen gezielt auf Demonstranten und auf die Sicherheitskräfte schossen, um so die Stimmung weiter aufzuheizen und die Lage eskalieren zu lassen. Nun könnten auch im Libanon externe Kräfte gezielt Öl ins Feuer gießen, um die Hisbollah aus der Führung des Landes zu entfernen. Die USA und Israel sehen die vom Iran unterstützte schiitische Partei als Terrorgruppe an.
Einseitige Explosionsermittlungen?
Die jüngste politische Krise folgt auf die katastrophale Explosion im Hafen von Beirut am 4. August 2020, bei der mehr als 200 Menschen getötet und 5.000 verletzt wurden und die einen großen Teil der Hauptstadt verwüstete. Inzwischen hat sich herausgestellt, dass 2.750 Tonnen Ammoniumnitrat – eine leicht flüchtige Chemikalie, die als Düngemittel verwendet wird – in Lagerhaus 12 in den Beiruter Docks gelagert wurden, nachdem sie 2013 von einem Schiff, der MV Rhosus, entladen worden waren.
Das Schiff hatte auf der Fahrt von Georgien nach Mosambik einen Motorschaden. Das Ammoniumnitrat hätte entsorgt oder weiterverkauft werden sollen, wurde aber stattdessen unter schlechten Bedingungen im Lagerhaus aufbewahrt, was zu einer Explosion mit verheerenden Folgen führte.
Die Untersuchung der Explosion soll klären, welche Politiker und Hafenbeamten für die fatalen Entscheidungen verantwortlich waren. Die Hisbollah und die Amal behaupten jedoch, dass der Richter, der die Untersuchung der Explosion leitet, Tarek Bitar, ihnen die Schuld in die Schuhe schieben will. Er wurde von der Hisbollah und Amal heftig kritisiert, nachdem er versucht hatte, mehrere schiitische Minister und Beamte im Rahmen seiner Untersuchung vorzuladen. Am Donnerstag wies der libanesische Kassationsgerichtshof Berichten zufolge eine Klage zweier ehemaliger Minister ab, welche die Ablösung von Richter Bitar forderten.
„Politische Eskalation“
Anfang dieses Monats wies die Justiz einen weiteren Versuch zurück, Richter Bitar, der von Angehörigen einiger Explosionsopfer als Symbol für die Unabhängigkeit der Justiz gelobt wurde, abzusetzen. Das Urteil würde es dem Richter ermöglichen, die Ermittlungen zu der verheerenden Explosion in Beirut wieder aufzunehmen.
Die heutigen Ausschreitungen folgten auf eine Rede des Hisbollah-Chefs Hasan Nasrallah vom Montag, der einen „ehrlichen“ Richter als Ersatz für Bitar forderte. Am Tag darauf erließ Richter Bitar jedoch einen Haftbefehl gegen Ali Hasan Khalil, einen ranghohen Abgeordneten der Amal, der sich weigerte, zu seiner Rolle bei den Ereignissen, die zu der Explosion im vergangenen Jahr führten, befragt zu werden. Khalil, der sagte, der Verlauf der Ermittlungen könne den Libanon „in Richtung Bürgerkrieg“ treiben, drohte daraufhin mit einer „politischen Eskalation„, falls Richter Bitar den Verlauf der Ermittlungen nicht ändern würde.