Sprengstoff wird knapp: Die unbemerkte Krise der ukrainischen Kriegswirtschaft

Aktuelle Angriffe auf die Ukraine (7. / 8.11.) Bildquelle X - Wahrscheinliche Quelle t.me/monitoringwar

Die Ukraine steht vor einem schleichenden, aber folgenschweren Zusammenbruch ihrer militärisch-industriellen Basis. Zunehmende russische Angriffe auf Energieanlagen, Chemiebetriebe und Rüstungsfabriken zerstören jene Infrastruktur, die für die Produktion von Drohnen und Langstreckenraketen unverzichtbar ist. Während Politik und Medien noch einzelne spektakuläre Angriffe hervorheben, geraten die strukturellen Verluste aus dem Blick. Fachkräfte, Materialien und Produktionsketten brechen weg – ein Prozess, der mit zeitlicher Verzögerung sichtbar wird und die militärische Schlagkraft der Ukraine langfristig massiv einschränken dürfte.

Von K.F. – mit freundlicher Genehmigung

Die gegenwärtige Eskalation industrieller Angriffe im ukrainischen Kriegsgebiet erzeugt eine schleichende, aber potenziell sehr tiefgreifende Erosion zentraler militärischer Fähigkeiten. Neben der bereits sichtbaren Überlastung der Energiewirtschaft, dem Verschleiß von Humanressourcen und dem zunehmenden Verschleiß der Luftverteidigung rückt ein weiterer kritischer Bereich in den Fokus. Die Produktion und Verfügbarkeit von Drohnen und Langstreckenraketen, also genau jener Systeme, die bislang in bestimmten Bereichen russische Operationen stören, verzögern oder umlenken konnten, steht perspektivisch unter erheblichem Druck. Es geht nicht um eine spektakuläre, plötzliche Zäsur, sondern um einen strukturellen Prozess, der mit zeitlicher Verzögerung sichtbar wird und dessen Folgen sich erst dann voll entfalten, wenn Puffer und Reserven aufgebraucht sind.

Die militärische Industrie eines Landes basiert auf einem Geflecht aus Energieversorgung, industrieller Basis, hoch spezialisierter Chemie, Testinfrastruktur und Logistik. In der Ukraine werden seit geraumer Zeit nicht nur Stromnetze und Umspannwerke, sondern auch rüstungsnahe Anlagen, Verkehrsknotenpunkte und Produktionsstätten gezielt angegriffen. Besonders kritisch sind Standorte, an denen Festtreibstoffe und Spezialchemikalien für Raketen und Zünder hergestellt oder gelagert werden, ebenso Prüfstände und Labore, die für die Qualitätssicherung komplexer Waffensysteme unverzichtbar sind. In diesem Kontext haben Anlagen im Raum Pawlohrad eine exemplarische Bedeutung, da sie historisch mit der Verarbeitung von Festtreibstoff und entsprechenden Komponenten verbunden sind und gleichzeitig in einer Zone liegen, die zunehmend in die Reichweite der Front rückt.

Die Verwundbarkeit von Drohnen und Langstreckenraketen ergibt sich aus der Tiefe und Komplexität ihrer industriellen Basis. Festtreibstoffe benötigen genau definierte Rezepturen und Reinheitsgrade, ihre Herstellung verlangt stabile Prozessketten, verlässliche Qualitätskontrolle und hoch qualifiziertes Personal. Ähnliches gilt für präzisionsmechanische Komponenten, Steuerungselektronik, Trägheitssensorik und die zugehörige Software. All diese Elemente lassen sich nicht beliebig auf improvisierte Werkstätten verlagern. Wenn Schlüsselanlagen zerstört, Labore beschädigt oder erfahrene Fachkräfte dauerhaft ausfallen, sinkt die Fertigungsqualität oder der Ausstoß derart, dass die Systeme militärisch nur noch eingeschränkt nutzbar sind.

Logistik wirkt in diesem Gefüge als Multiplikator der Probleme. In einem Kriegsgebiet, in dem Infrastruktur permanent bedroht ist, geraten nicht nur Transporte an die Front unter Druck, sondern auch die Versorgung der eigenen Industrie mit Vorprodukten, Chemikalien, Ersatzteilen und Maschinen. Theoretisch wäre ein Teil der Spezialchemie, Elektronik oder Maschinen importierbar. Praktisch treffen jedoch mehrere Hemmnisse aufeinander. Transportkorridore sind gefährdet, Kapazitäten begrenzt, Versicherungsprämien hoch, Exportkontrollen und Dual Use Regelungen schränken den Zugang zu kritischen Stoffen und Technologien ein. Ausgerechnet jene Komponenten, die für Langstreckenraketen und komplexe Drohnen unverzichtbar sind, gehören häufig in diese Kategorie. Damit verstärkt der Kriegszustand jeden bestehenden Engpass und verhindert die schnelle Substitution zerstörter Kapazitäten.

Kurzfristig kaschieren Lagerbestände und bereits begonnene Fertigungsreihen den strukturellen Schaden. Bereits gegossene Treibstoffsegmente, gelagerte Gefechtsköpfe, Elektronikkomponenten und halbfertige Waffensysteme laufen noch durch die Produktionskette und ermöglichen weiterhin Einsätze. Nach außen entsteht zunächst der Eindruck, die Schlagkraft bleibe stabil. Erst mit zeitlicher Verzögerung wird sichtbar, welche Produktionsstränge tatsächlich ausgefallen sind und welche nur verlangsamt wurden. Zugleich zwingt der Mangel an kritischen Komponenten dazu, Prioritäten zu setzen. Hochwertige Systeme werden gezielter eingesetzt, Serienangriffe weichen selektiven Operationen, während parallel vermehrt auf einfachere, improvisierte Lösungen zurückgegriffen wird.

In dieser Situation neigen politische und mediale Debatten dazu, in Extreme zu verfallen. Die eine Seite erklärt die ukrainische Fähigkeit zu Langstreckenangriffen als quasi ungebrochen, gestützt auf einzelne spektakuläre Schläge tief im gegnerischen Hinterland. Die andere Seite zeichnet das Bild eines bevorstehenden totalen Kollapses, der die Ukraine de facto entwaffnet zurücklasse. Realistischer ist eine Zwischenposition. Es ist plausibel, dass die Produktionskapazität für komplexe Langstreckenraketen und hochwertige Drohnen mittelfristig deutlich schrumpft und deren Einsatzfrequenz spürbar sinkt. Ein vollständiges und abruptes Verschwinden dieser Fähigkeiten ist jedoch unwahrscheinlich, solange auch nur Teile der industriellen Basis, improvisierte Lösungen und externe Unterstützung fortbestehen.

Mit Blick auf die Drohnenprogramme ist zusätzlich zu berücksichtigen, dass diese technologisch und industriell heterogener sind. Hochwertige Langstreckendrohnen mit komplexer Sensorik und weitreichenden Triebwerken stehen am oberen Ende der Komplexitätsskala und sind ähnlich verwundbar wie Raketen. Am anderen Ende entstehen tausende kleiner FPV Systeme auf Basis ziviler Komponenten, die mit vergleichsweise geringem industriellen Aufwand in dezentralen Strukturen gefertigt werden können. Ein Einbruch bei komplexen Systemen ist deshalb durchaus vereinbar mit einem anhaltend hohen Einsatzvolumen einfacherer Drohnen, die eher taktische als strategische Wirkung entfalten.

Ein weiteres Problem liegt in der Erosion von Humanressourcen und institutionellem Knowhow. Ingenieure, Chemiker, Techniker und erfahrene Werksarbeiter lassen sich nicht beliebig ersetzen. Gefallene, verletzte oder emigrierte Fachkräfte hinterlassen Lücken, die selbst bei intakter Infrastruktur kaum kurzfristig geschlossen werden können. Gleichzeitig arbeiten diejenigen, die bleiben, unter Dauerstress, Luftalarm und teils prekären Bedingungen. Die Fehleranfälligkeit steigt, die Innovationskraft sinkt, langfristige Entwicklungsprojekte werden zugunsten schneller, pragmatischer Lösungen zurückgestellt. Auch das trägt dazu bei, dass gerade komplexe Systeme wie Langstreckenraketen mit der Zeit überproportional betroffen sind.

Dem gegenüber stehen verschiedene Ansätze zur Schadensbegrenzung. Dezentralisierung von Produktion, Aufteilung kritischer Prozesse auf mehrere Standorte, Nutzung kleinerer Werkstätten für Teilkomponenten sowie der verstärkte Einsatz modularer Designs erhöhen die Resilienz gegenüber Luftangriffen. Internationale Unterstützung kann außerdem Knowhow, Maschinen, Ausgangsstoffe und gegebenenfalls auch fertige Waffensysteme zuführen. All dies kann einen vollständigen Zusammenbruch verhindern oder zumindest verzögern. Gleichzeitig bleiben diese Maßnahmen teuer, logistisch riskant und politisch anspruchsvoll, insbesondere wenn sie sich über längere Zeiträume erstrecken sollen.

Aus strategischer Perspektive verschiebt ein schrittweiser Einbruch der Kapazitäten im Bereich Drohnen und Langstreckenraketen das Kräfteverhältnis nicht über Nacht, aber in einer Weise, die operative Freiräume erzeugen kann. Wenn tiefe Schläge auf Logistikzentren, Depots und kritische Infrastruktur des Gegners seltener werden oder an Präzision verlieren, sinkt der Druck auf dessen rückwärtige Räume. Das erleichtert die Konsolidierung von Frontabschnitten, die Rotation von Truppen und den Aufbau eigener Reserven. Zugleich nimmt die Abschreckungswirkung ab, die von der Gefahr wiederholter Angriffe in großer Tiefe ausgeht.

In der Summe entsteht ein Bild, das weder die These eines ungebremsten ukrainischen Rüstungswunders noch die Propaganda eines unmittelbar bevorstehenden totalen Zusammenbruchs trägt. Die Kombination aus zerstörter Infrastruktur, gestörter Logistik, erschöpften Humanressourcen und gezielt angegriffener Spezialchemie legt nahe, dass gerade im Bereich der komplexen Langstreckenwaffen ein deutlicher Rückgang der verfügbaren Kapazitäten wahrscheinlich ist. Diese Entwicklung vollzieht sich schleichend, überlagert von politischen Botschaften, Einzelfallerfolgen und improvisierten Anpassungen. Wer die Lage nüchtern bewerten will, muss genau diese zeitliche Verzögerung, die Verwundbarkeit spezialisierter Produktion und die begrenzte Kompensationskraft externer Hilfe in ihre Zusammenhänge setzen.

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