Gehen und Wandern sind Geschwister. Das Pilgern ist ihr Cousin; und es ist auch die Großmutter des Reisens überhaupt. Während das Gehen eine notwendige Fortbewegung ist, das Wandern dieses zum Plaisir forciert und bloß auf Naturschönheit und körperliche Ertüchtigung gerichtet ist, zielt das Pilgern auf die Transzendenz. Einzig eine spirituelle Motivation war es, daß Menschen überhaupt mit dem Reisen begannen. Eine nomadisierende Gesellschaft zieht mit ihren Herden, Kaufleute mit ihrer Ware, aber dies sind keine Reisen im abstrakten Sinn, sondern notwendige Anstrengungen zum physischen Lebensunterhalt.
Ein Gastbeitrag von Ronald F. Schwarzer
Der Pilger sucht das ewige Leben. Der Pilger sucht Gott. Das älteste Bauwerk der Menschheit Göbekli Tepe entstand noch vor der Seßhaftwerdung der Menschen vor rund 11. 000 Jahren. Die rätselhafte Anlage erklären die Gelehrten einzig als spirituellen Versammlungsplatz einer hauslosen Zivilisation, die enorme Anstrengungen unternahm, dieses monumentale Werk zu errichten, das keinerlei militärische Funktion besaß. Zeitgenössische Esoteriker bezeichnen dies wohl als „Kraftort“, als eine Stelle, wo Himmel und Erde einander berühren und die Sphären durchlässig werden. Sie zu erreichen, rechtfertigt jede Mühe, jede Entbehrung und jede Gefahr hinzunehmen, denn diese irdischen Lasten mögen am Pilgerziele von der Seele abperlen wie der Tau am Morgen eines neuen Tages.
Jedes Volk, jede Zeit, jede Religion kennt solche Orte. In der Antike sind es der Tempel der Artemis in Ephesus, das Apollo-Orakel in Delphi, das Asklepios Heiligtum in Epidauros und als magischster und abgelegenster Ort von allen, die Oase Siwa in der libyschen Wüste. Drei Wochen Karawanenweg hatte Alexander der Große, von Alexandria aus zu bewältigen, um den Tempel von Amun zu erreichen, wo selbst ihm seine eigene Vergottung offenbart wurde. Ich selbst besuchte jene Stätte kürzlich und konnte nichts Derartiges erleben. „Alle Götter der Heiden sind nichtig“ heißt es im 96. Psalm, Dämonen sind sie, wie der Heilige Paulus im Korintherbrief ausführt, und haben endlich ihre Kraft verloren.
Der erste belegte christliche Pilger war eine Frau, die heilige Helena, Mutter des Kaisers Konstantin, die im Jahre 326, im Auftrag ihres Sohnes hochbetagt ins Heilige Land aufbrach, um die Orte des Wirkens Jesu aufzusuchen und nach Reliquien der Passion zu forschen. Die erste historisch dokumentierte Pilgerin des Christentums war sie gewiß, allein im Heiligen Land waren die Gnadenorte unseres Herrn von Anbeginn bekannt, sonst hätte sie sie nicht gefunden. Jerusalem war seit der Spätantike heiligstes Pilgerziel der Christenheit und so kostbar, daß sich die Blüte des europäischen Adels aufmachte, Hab und Gut verkaufte und Leib und Leben dafür einsetzte, es von den Muselmanen zurückzugewinnen. „Bewaffnete Wallfahrt“ nannten sie es zu ihrer Zeit und lange noch nicht Kreuzzug. Die europäische Oberschicht konnte es sich leisten zu allen Zeiten die kostspielige Tour in den Orient zu unternehmen und Bernhard von Breidenbach hinterließ uns 1486 einen ausführlichen Pilgerbericht seiner Wallfahrt mit dem Grafen von Solms ins Heilige Land. Der Graf hat sie nicht überlebt und verschied an der Ruhr zu Alexandria.
Das gläubige Volk freilich konnte sich solche Fernwallfahrten schon wegen der teuren Schiffspassage, die die Venezianer reich machte, nicht leisten. Man zog zu Fuß zum Petrusgrab in die ewige Stadt Rom und ward ein „Pilgrim“ geheißen. Dies leitet sich vom lateinischen „Peregrinus“ ab, ein Fremdling, und ursprünglich von „Per Argum“, „Über Land“, also jenseits des Ager Romanus, des ursprünglichen römischen Herrschaftsgebiets. Die geistlichen Häuser waren gehalten bis zu 3 Tage die armen Pilger zu speisen und zu behausen. Dies bot nun manchem Zivilversager unter dem Deckmantel des Wallfahrers die Möglichkeit, sich aushalten zu lassen, und allerlei arbeitsscheues Gesindel mit krimineller Energie brachte den ganzen Stand in Verruf, so daß solche Pilger „Pülcher“ geheißen wurden.
Die Pilger nämlich sind tatsächlich ein Stand, nicht mehr ganz Weltmenschen und gerade noch nicht Kleriker, Gottsucher, die sich Weg und Wetter überlassen, um ihre Seele zu erheben zu dem, was ewig gilt. Im Allgemeinen schrieb der Pilger, wenn er denn Vermögen besaß, vor dem Abmarsch sein Testament, ordnete seine Verhältnisse daheim und rechnete gar nicht damit, je wiederzukehren. Viele starben unterwegs durch Unfall, Räuber, Seuche und Entkräftung. Manch einer blieb als Laienbruder an dem Gnadenort und manchen zog es am Rückweg in ein Kloster.
Von all dem wissen die Langstreckenwanderer, die in einer einzigen nie abreißenden Karawane von März bis Oktober über die Pyrenäen am Camino Francés nach Santiago ziehen, wenig. Fünf Mal bin ich bislang auf unterschiedlichen Wegen nach Santiago gepilgert, zweimal ließ es sich nicht vermeiden, einige Wegstrecken auf jenem Trampelpfad zu absolvieren. Da habe ich sie gesehen, „die modernen Pilger“, die seit rund 20 Jahren eine günstige, körperlich stärkende und gesellige Urlaubsvariante entdeckt haben, die sie „pilgern“ nennen. Wenn man dann abends in den Pilgerherbergen zusammenhockt, da interessiere ich mich immer für ihre Beweggründe, den Weg auf sich zu nehmen, für ihre religiösen Hoffnungen, ihr spirituelles Ziel. Überraschend wenige haben irgendeine Religion. Bewegung in freier Natur, Gemeinschaftsgefühl und eine Prise Abenteuer sind oft die einzige Motivation und dann höre ich ihn immer wieder, den dümmsten Satz über das Pilgern: „Der Weg ist das Ziel“. Dieser fundamentale Unsinn hat keinen blanken Schimmer davon, warum sich je ein Mensch als wahrer Pilger aufgemacht hat. Es gilt: Der Weg ist der Weg und der Weg ist hart, das Ziel ist das Ziel und das Ziel ist weit.
Des wahren Pilgers Sehnen gilt ab dem ersten Schritt seiner Vorstellung vom glücklichen Eintritt in den Gnadenort und der Moment liegt noch so weit in der Ferne. Während des Pilgerns sieht man im Allgemeinen sehr wenig, aber davon sehr viel. Wälder, Felder, staubige Pfade, kleine Weiler, manchmal dann als Lohn für Tage immer gleicher Monotonie, Glücksorte, wo die Pilger sich seit dem Mittelalter ausruhten, sich erholten und gewiß auch festeten, was die Börse und der Schankwirt hergaben.
Doch in den langen Stunden des gleichförmigen Marschierens auf dem Wege hin zum Ziel, wächst in der inneren Schau dieses Ziel immer prächtiger und größer heran. Man stellt sich vor, wie es wohl sein wird, wenn man in St. Peter durch die Heilige Pforte schreitet oder in Santiago den Pórtico de la Gloria passiert. Man erträumt sich das schwingende Weihrauchfaß im Heiligtum des Pilgerheiligen Jakobus, man meint den Frascati in einer römischen Taverne schon zu schmecken. Die immer gleichen grünen Wiesen und die goldenen Weizenfelder sind da nur Folie auf die das Ziel man projiziert. Geht man allein, und dieses will ich jedem raten, bleibt man im ungestörten Zwiegespräch mit Gott, der eigenen Vergangenheit und der erhofften Zukunft. Man geht die Irrwege des bisherigen Lebens im Kopf immer wieder durch und sucht nach dem Ausweg in den inneren Frieden. Wer auf dem Pilgerweg nicht betet, bleibt unendlich einsam auf der Strecke. Banal verplaudert sich mit den Gefährten der Wanderer und der Flaneur, der Pilger sucht die Antwort auf die Fragen, die er sich im hektischen Alltag seines Lebens in der Welt nie gestellt hätte. Der Weg ist weit und nicht das Ziel, aber die Vorbereitung auf den Augenblick des Glücks, das jenes Herz bis hoch zum Rande füllt, wenn es sich nur geöffnet hat.










Ronald F. Schwarzer, Impresario, Waldgänger & Partisan der Schönheit
Wien, 19.12.2025
