Kontroverse Debatte an der Diplomatischen Akademie Wien: Emil Brix, Wendelin Ettmayer, Bence Bauer und Petr Drulák diskutieren auf Einladung von „Libratus“ ein „gespaltenes Europa“. Themen: Ost-West-Schieflage in der EU, Rechtsstaats- und Sanktionspolitik, Erasmus-Sperren, Österreichs Neutralität, Ungarns Rolle als möglicher Dialogstandort sowie Diplomatie im Ukrainekrieg. Was braucht Europa: Sanktionen, Abschreckung – oder kompromissfähige Realpolitik? Ein Musterstück im „miteinander Reden“, von dem sich Systemmedien und Politik eine Scheibe abschneiden können.
Europa steckt in einer Phase tiefgreifender Spannungen. In der Diplomatischen Akademie Wien wurde am 20. Oktober unter dem Titel „Gespaltenes Europa – Perspektiven für eine neue Zusammenarbeit“ über Ursachen und Auswege diskutiert. Eingeladen hatte Libratus-Herausgeberin Gudula Walterskirchen, die den Abend eröffnete und moderierte. Sie betonte die Notwendigkeit eines offenen, respektvollen Austauschs – abseits der gewohnten Meinungsgrenzen.
Auf dem Podium sprachen vier profilierte Kenner der europäischen Außen- und Innenpolitik. Emil Brix, bis vor Kurzem Direktor der Diplomatischen Akademie und früher österreichischer Botschafter in London und Moskau, skizzierte die Entwicklung seit dem Ende des Kalten Krieges. Wendelin Ettmayer, ehemaliger Nationalratsabgeordneter und langjähriger Diplomat mit Stationen in Finnland, Kanada und beim Europarat, brachte historische und sicherheitspolitische Perspektiven ein.
Der ungarische Jurist Bence Bauer, Direktor des Deutsch-Ungarischen Instituts am Matthias Corvinus Collegium (MCC) in Budapest, sprach über die Sicht Mitteleuropas auf die EU und die Bedeutung einer realitätsnahen Politik. Aus Prag kam der Politologe und ehemalige stellvertretende Außenminister Petr Drulák, der seit Jahren die europäische Integrationspolitik wissenschaftlich begleitet und kritisch kommentiert.
Ost-West-Gefälle nie vollständig aufgearbeitet
Emil Brix stellte fest, dass die Euphorie nach 1989 einer pragmatischen Ernüchterung gewichen sei. Das Versprechen eines einigen, gleichberechtigten Europas sei nicht eingelöst worden. Die Strukturen der EU seien westlich geblieben, während Mittel- und Osteuropa zwar politisch integriert, aber kulturell und institutionell kaum berücksichtigt worden sei. Dadurch habe sich eine dauerhafte Wahrnehmung der Ungleichheit verfestigt. Er warnte davor, Mitgliedstaaten durch Sanktionen oder politische Ausgrenzung weiter zu entfremden.
Petr Drulák widersprach der gängigen Vorstellung, Europa sei entlang nationaler Linien gespalten. Die entscheidende Trennlinie verlaufe quer durch alle Gesellschaften – zwischen ideologischen und realitätsorientierten Ansätzen. Europa verliere an Gewicht, weil es auf moralische Haltungen setze, statt auf sachliche Politik. Auch die EU habe, so Drulák, die Diplomatie verlernt und reagiere zunehmend dogmatisch.
Ungarn zwischen Kritik und Realität
Bence Bauer nutzte die Gelegenheit, um auf die häufig kritisierte Politik Ungarns einzugehen. Er wies den Vorwurf zurück, die Regierung in Budapest sei antieuropäisch. Die Mehrheit der Bevölkerung wolle ein starkes, souveränes Europa, aber ohne politische Bevormundung. Bauer verwies auf die hohe Wahlbeteiligung bei den Europawahlen und betonte, Ungarn habe alle Rechtsstaatsauflagen der EU-Kommission umgesetzt. Dennoch würden Fördergelder weiter blockiert, während anderen Staaten großzügig Mittel gewährt würden. Solche doppelten Maßstäbe schwächten das Vertrauen in die europäischen Institutionen.
Er äußerte Verständnis für Kritik, forderte aber mehr Sachlichkeit im Umgang miteinander. Europa brauche mehr realitätsbezogene Politik statt Ideologie. Es sei ein Irrtum zu glauben, Widerspruch gegenüber der EU sei gleichbedeutend mit Europafeindlichkeit.
Krieg, Diplomatie und Europas Rolle
Wendelin Ettmayer stellte den Zusammenhang zwischen innerer Stabilität und außenpolitischer Glaubwürdigkeit her. Ein Land könne außen nur stark auftreten, wenn es innen gefestigt sei. Er erinnerte an Bruno Kreisky, der Österreich durch politische Stabilität internationale Bedeutung verschafft habe. Europa, so Ettmayer, müsse zu seinen traditionellen Stärken zurückfinden – zu Diplomatie, Ausgleich und Kompromissbereitschaft. Er sprach sich für eine neue gesamteuropäische Sicherheitskonferenz aus, die auf Dialog statt auf Konfrontation setze.
Emil Brix bekräftigte, dass Russland mit dem Angriff auf die Ukraine das Völkerrecht verletzt habe. Österreich könne trotz seiner Neutralität nicht unbeteiligt bleiben. Frieden könne erst dann verhandelt werden, wenn die territoriale Integrität der Ukraine wiederhergestellt sei. Zugleich warnte er vor moralischer Überhöhung und erinnerte daran, dass Diplomatie selbst mit schwierigen Partnern notwendig bleibe.
Budapest als Symbol der neuen Kräfteverhältnisse
In der Diskussion wurde auch thematisiert, dass ein mögliches Treffen zwischen Donald Trump und Wladimir Putin nicht in Wien, sondern in Budapest stattfinden soll. Walterskirchen stellte die Frage, wie es dazu kommen konnte, dass Österreich seine traditionelle Rolle als Vermittler verloren habe. Ettmayer sah die Ursache darin, dass sich das Land zunehmend an den außenpolitischen Linien der EU und der USA orientiere und damit seine neutrale Vermittlungsfunktion aufgegeben habe. Bauer hingegen betonte, dass Ungarn bewusst Gesprächskanäle offenhalte, um diplomatische Lösungen nicht auszuschließen.
Drulák nannte die Situation symptomatisch: Europa werde außenpolitisch von anderen Mächten überholt, weil es zu sehr mit sich selbst beschäftigt sei. Ein starkes Europa könne nur entstehen, wenn es die eigenen Interessen wieder klar definiere – unabhängig von Washington oder Brüssel.
Auf allen Ebenen: Endlich wieder miteinander reden
Gudula Walterskirchen fasste am Ende zusammen, worum es gehen muss: um die Rückkehr zu einer offenen Debattenkultur, in der unterschiedliche Sichtweisen nicht als Bedrohung, sondern als notwendiger Teil europäischer Vielfalt verstanden werden. Ob Wien jemals wieder Gesprächsort internationaler Vermittlung sein kann oder Budapest diese Rolle übernimmt, bleibt offen.
