Im Rahmen der größten Demokratie-Krise seit dem 2. Weltkrieg fällt eines immer wieder auf: Politiker wechseln Meinungen und Standpunkte wie andere Menschen Kleidungsstücke. Der vor kurzem in seinem Amt bestätigte Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Die Grünen) polarisiert nun mit der Forderung nach einer Impfpflicht gegen SARS-CoV2 – und das obwohl er genau jenes noch vor kurzem öffentlichkeitswirksam ausschloss.
Von Max Bergmann
In einer Stellungnahme der dpa (Deutsche Presse-Agentur) gegenüber bemühte sich der baden-württembergische Ministerpräsident aber, die Wogen zu glätten. „Wir planen keine Impfpflicht. Für alle Zeiten kann ich eine Impfpflicht nicht ausschließen“, so der Grünen-Politiker am Wochenende in Stuttgart. „Es ist möglich, dass Varianten auftreten, die das erforderlich machen.“ Es könne gut sein, „dass wir irgendwann gewisse Bereiche und Tätigkeiten nur noch für Geimpfte zulassen“. Kretschmann nannte als Beispiel die bereits bestehende Impfpflicht gegen Masern. „Da gibt’s auch eine Impfpflicht für die Kitas, weil Masern höchst ansteckend sind.“ Man werde die Pandemie ohne Impfungen auf Dauer nicht „in die Knie zwingen“ können. Noch vor wenigen Wochen sprach sich der Grüne gegen einen Zwang zur Impfung aus, man setze auf Überzeugungsarbeit.
Masern Vergleich völlig irreführend – und den Fakten nach nicht vergleichbar
Der Vergleich mit den Masern wird in dieser Debatte regelmäßig angeführt. Unter genauerer Betrachtung der Sachlage sind Impfungen gegen das Masern Virus mit Impfungen gegen SARS-CoV2 aber in keiner Weise vergleichbar (Konsens ohne Konsens: Spike-Proteine liefern Anlass zur Sorge). Der Masernimpfstoff basiert auf klassischen, bekannten Technologien, wurde in den 50er Jahren entwickelt und gilt als sicher. Außerdem ist dieser Impfstoff regulär zugelassen.
Die Impfstoffe gegen SARS-CoV2 basieren auf neuartigen Verfahren, die bisher weder im Rahmen von Massenimpfungen eingesetzt wurden noch langfristig auf ihre Sicherheit geprüft wurden. Eine reguläre Zulassung in der Europäischen Union steht ebenfalls aus, die aktuell verfügbaren Vakzine sind nur „bedingt zugelassen“ (in einem aktuellen Rote-Hand-Brief, der vom Paul-Ehrlich-Institut online veröffentlicht wurde, spricht man von einer „bedingten Marktzulassung“).
Not-Zulassung der Covid-19-Impfstoffe vielen Bürgern nicht bekannt
Dieser Umstand ist vielen Bürgern gar nicht bekannt, in der Regel geht die Bevölkerung davon aus, die Impfstoffe seien in einem „beschleunigten Verfahren“, aber regulär zugelassen – das ist nicht der Fall. Der Reproduktionsfaktor (R-Wert, vereinfacht erklärt gibt dieser Wert an, wie viele weitere Menschen durch eine erkrankte Person angesteckt werden) wird für SARS-CoV2 mit etwa 2 angegeben, eine erkrankte Person steckt im Normalfall also etwa 2 weitere Menschen an. Tatsächlich liegen die Werte seit Monaten konstant und deutlich darunter, am 25. Juli wurde der Wert für Deutschland mit 1,22 angegeben. Im Falle von Masern gehen Experten von einem R-Wert von etwa 16-18 aus. Masern sind also tatsächlich hoch ansteckend, was für SARS-CoV2 allen Fakten nach nicht gilt. Auch unter Betrachtung dieser Tatsache ist der Vergleich mit dem Masern Virus in der Debatte um eine Impfpflicht nicht mehr als der verzweifelte Versuch, Menschen zur Impfung zu drängen.
Massiver Impfdruck: Impfen sei Bürgerpflicht
„Wir fahren weiter auf Sicht. Die Virusmutationen haben uns schon zweimal einen Strich durch die Rechnung gemacht“, sagte Kretschmann in seiner Stellungnahme. „Treten Varianten auf, gegen die der Impfstoff nicht mehr so wirksam ist, sind wir sofort in einer anderen Situation“. Kretschmann machte damit deutlich, dass eine Rückkehr zur Normalität gar nicht geplant ist. Das Auftreten von Virus-Mutationen ist wissenschaftlich unumstritten, es werden weitere Varianten auftreten, das steht außer Frage. „Im Kern kann man sagen: Impfen ist Bürgerpflicht. Es geht um sehr viel. Das sollte jeder verantwortlich denkende Mensch einfach tun.“
Nicht belegte Aussage: Folgen von Covid seien „viel schlimmer“ als Impfstoffe
Aufs sprichwörtliche Glatteis begab sich der Grünen Ministerpräsident aber mit seiner nicht durch Fakten belegte Aussage, die Nebenwirkungen von Covid-19 seien viel schlimmer als die der Impfstoffe überhaupt sein könnten. Auch wisse man wenig über die Langzeitfolgen einer Virusinfektion, die Menschen müssten ihre Bedenken gegen die Impfung radikal zurückstellen, so Kretschmann. Belege für diese steilen Thesen bleibt er schuldig. Er vergisst außerdem zu erwähnen, dass wir über mögliche Langzeitfolgen der Massenanwendung von mRNA- und Vektorimpfstoffen ebenfalls wenig bis gar nichts wissen. Auch bleibt völlig unerwähnt, dass weite Teile der Bevölkerung auf Grund ihres jüngeren Alters gar nicht durch SARS-CoV2 gefährdet sind, Impf-Nebenwirkungen aber nachgewiesenermaßen vermehrt unter jungen Menschen auftreten.
Kanzleramtsminister: Restaurant, Kino und Fußball nur noch für Geimpfte
Unterdessen meldete sich Kanzleramtsminister Helge Braun (CDU) in der Bild am Sonntag zu Wort. „Geimpfte werden mehr Freiheiten haben als Ungeimpfte“, so der Merkel-Minister. Bei hohem Infektionsgeschehen müssten Ungeimpfte ihre Kontakte stärker reduzieren als Geimpfte. „Das kann auch bedeuten, dass gewisse Angebote wie Restaurant-, Kino- und Stadionbesuche selbst für getestete Ungeimpfte nicht mehr möglich wären, weil das Restrisiko zu hoch ist.“ Weiter teilte Braun mit, der Staat habe zu jeder Zeit die Pflicht, die Gesundheit seiner Bürger zu schützen. „Dazu gehört ein Gesundheitswesen, das im Winter nicht erneut Krebs- und Gelenkoperationen zurückstellen muss, um Corona-Patienten zu behandeln.“ Er fügte hinzu: „Und dazu gehört auch der Schutz derjenigen, die ungeimpft sind.“
Kanzlerkandidat Laschet (CDU) spricht sich gegen Impfpflicht aus
Am 26. September wird in Deutschland gewählt, der Kanzlerkandidat der Union, Armin Laschet (CDU), widersprach seinem Parteikollegen Braun am Sonntag im ZDF Sommerinterview. „Ich halte nichts von Impfpflicht und halte auch nichts davon, auf Menschen indirekt Druck zu machen, dass sie sich impfen lassen sollen“. Er betonte, das Ziel müsse sein, die Pandemie so zu bekämpfen, dass alle Freiheits- und Grundrechte wieder in Kraft gesetzt werden.
„In einem freiheitlichen Staat gibt es Freiheitsrechte nicht nur für bestimmte Gruppen“. Weiterhin hielt er fest, das Prinzip, dass man entweder geimpft, getestet oder genesen sein müsse, um bestimmte Dinge zu tun, sei richtig und damit eine Ungleichbehandlung Geimpfter und Ungeimpfter nicht zielführend. Laschet wird an seinen Aussagen gemessen werden. Sollte er nach der Bundestagswahl im September der neue Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland sein, werden es diese und weitere Äußerungen sein, an die sich die wahlberechtigte Bevölkerung erinnern wird.