In den Tagen vor der Flut: Was wusste die deutsche Regierung?

Bild: Merkel by Alexander.kurz - Own work, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=27761321; Hintergrund freepik / @nitayuko

Nach der verheerenden Flutkatastrophe in Westdeutschland und den noch nicht absehbaren Folgen für die Bevölkerung wird die Kritik am deutschen Katastrophenschutz lauter. Das europäische Hochwasser-Frühwarnsystem „Efas“ habe einem Bericht der Times zufolge bereits am 10. Juli Alarm geschlagen und die Behörden in Belgien und Deutschland detailliert vorgewarnt – 4 Tage vor der verheerenden Flut. Doch die Warnung blieb ungehört.

Meteorologen stellten gegenüber der britischen Times ein „erhebliches Versagen des Systems“ fest, welches direkt für den Tod vieler Menschen und die Verwüstung in Städten und Gemeinden in Westdeutschland verantwortlich sei. Die ersten Anzeichen der sich anbahnenden Katastrophe seien bereits 9 Tage vor dem Beginn der Flutwellen durch einen Satelliten entdeckt worden, der über dem Rhein kreiste. In den Tagen darauf schickte ein Team aus Wissenschaftlern und Meteorologen den deutschen Behörden eine Reihe von Vorhersagen, die jetzt wie eine makabre Prophezeiung klingen: Dem Rheinland drohten „extreme“ Überschwemmungen, insbesondere entlang der Flüsse Erft und Ahr, und in Städten Hagen und Altena.

Trotz langer Vorwarnzeit: Unwetter traf Bevölkerung völlig unvorbereitet

Zwischen dem Beginn der massiven Flutwellen und den ersten erst zu nehmenden Vorwarnungen lagen mehr als 24 Stunden – genug Zeit, sich auf den Ernst der Lage vorzubereiten. Doch trotz präziser Vorhersagen, welche Städte und Landkreise von den Regenfällen am schlimmsten betroffen sein würden, traf die Katastrophe die Bevölkerung und die vielen Opfer mit voller Wucht und nahezu unvorbereitet. Deutschland habe seine Vorkehrungen „extrem falsch“ getroffen, sagte einer der Experten, der Europas ausgeklügeltes Hochwasservorhersagemodell „Efas“ mit entwickelt hat, der Sunday Times.

Hunderte Tote durch eine der tödlichsten Naturkatastrophen der Nachkriegszeit

Hannah Cloke, Professorin für Hydrologie an der Universität Reading, sagte, dass ein „erhebliches Versagen des Systems“ zu einer der tödlichsten Naturkatastrophen Deutschlands der Nachkriegszeit geführt habe, die seit Mittwoch mindestens 133 Menschenleben gefordert hat. Mindestens weitere 24 Menschen kamen in Belgien ums Leben, eine Zahl, die laut dem belgischen nationalen Krisenzentrum voraussichtlich noch steigen werde. Am Dienstag und Mittwoch wurden weite Teile Westdeutschlands innerhalb von 48 Stunden überschwemmt, mit einer Menge an Regen die sonst nur in mehr als einem Monat fällt. Einige Nebenflüsse des Rheins schwollen auf absolute Rekordwerte an, verwandelten Städte in Schlammseen, fegten Autos, Gebäude und Brücken weg. Dutzende Menschen ertranken in ihren Häusern.

Computermodelle wertlos – hat der Katastrophenschutz versagt?

„Als ich [Anm. d. Red.: am Donnerstag] Morgen aufwachte und erfuhr, wie viele Menschen gestorben waren, dachte ich nur: Das hätten wir besser machen können“, sagte Cloke. „Ich bin enttäuscht, dass besonders in den Städten so viele Menschen von der Flut überrollt wurden. Das deutet darauf hin, dass vieles schief gelaufen ist. Die Leute hätten Warnungen erhalten sollen. Die Leute hätten diese Warnungen ernst nehmen müssen. Es nützt gar nichts, riesige Computermodelle zu haben, die vorhersagen, was passieren wird, wenn die Leute nicht wissen, wie sie sich bei einer Flut zu verhalten haben.“ Die meisten Menschen in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz lebten ihren Alltag weiter, ohne sich der Gefahr bewusst zu sein, dass das Wasser weiter steigen könnte. Die Bundesregierung sieht sich nun mit der Frage konfrontiert, wie viele Menschenleben hätten gerettet werden können, wenn sie die Gefahrenzonen rechtzeitig evakuiert und der Öffentlichkeit die Schwere der drohenden Krise angemessen vermittelt hätte. Auch nach Recherchen der BILD gab es in den Krisengebieten weder Vorwarnungen, Sirenen noch Lautsprecherdurchsagen – oder sie kamen schlichtweg zu spät.

Dramatische Szenen und Kampf ums eigene Überleben in den Fluten

Tausende Polizisten, Feuerwehrleute, Freiwillige aus dem ganzen Bundesgebiet, Katastrophenhelfer und Soldaten durchkämmten die Region nach Leichen und eingeschlossenen Überlebenden, während die Zahl der Opfer stetig anstieg. In Sinzig bei Koblenz starben 12 Bewohner eines Heims für Menschen mit Lernbehinderungen. Dort rettete sich ein Mann aus dem Gebäude und klammerte sich mehr als vier Stunden lang an ein Fenster, während um ihn herum 3 Meter hohe Fluten tobten. „Nur sein Kopf war über dem Wasser“, sagte ein Zeuge, der auf der anderen Straßenseite wohnt. „Ich habe ihn gesehen und konnte ihm nicht helfen. Er schrie um sein Leben. Es war unglaublich schlimm, weil ich nicht helfen konnte.“

Lage in Teilen des Rheinlands weiter kritisch – Burg Blessem teilweise eingestürzt

In der Nacht zum Freitag mussten 700 Menschen aus dem nahe gelegenen Kreis Heinsberg evakuiert werden. Zuvor war ein Damm an der Ruhr gebrochen, das Dorf Ophoven nahe der niederländischen Grenze wurde überflutet. In Teilen des Rheinlandes haben die Wassermassen sich mittlerweile zurückgezogen, aber in Erftstadt, 16 Kilometer südwestlich von Köln, bleibt die Lage kritisch. Dort sind unzählige Häuser unbewohnbar nachdem ihre Fundamente durch die Fluten weggefegt wurden. Ein riesiges Erdloch hat einen Teil der Stadtburg, die Burg Blessem, zum Einsturz gebracht.

Merkels Behauptungen, der Klimawandel sei schuld, ist nicht haltbar

Der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) gehörte neben Kanzlerkandidat Armin Laschet (CDU) zu den ersten Politikern vor Ort und versprach schnelle finanzielle Hilfe. „Wir trauern mit denen, die ihre Familien, Bekannten, Familienangehörige verloren haben. Ihr Schicksal zerreißt uns das Herz“, sagte er. „Vielen Menschen in diesen Regionen bleibt nichts anderes übrig als ihre Hoffnung. Wir können es uns nicht leisten, diese Hoffnung zu enttäuschen.“ Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) reiste am Sonntag nach ihrer Rückkehr von einem offiziellen Besuch im Weißen Haus in die Hochwassergebiete. „Wir müssen uns beeilen“, sagte sie nach einem Besuch im völlig verwüsteten Dorf Schuld. „Wir müssen im Kampf gegen den Klimawandel schneller sein.“, wie die Times berichtet. Experten des Deutschen Wetterdienstes (DWD) widersprachen Merkel prompt: es sei nicht bewiesen, dass der Klimawandel Auslöser für die verheerende Flutkatastrophe in Westdeutschland gewesen sei. Der Diplom-Meteorologe Andreas Friedrich erklärte am Samstag in der BILD: „Ein solches regionales Unwetter ist ein Einzelereignis, das ist Wetter. Die Behauptung, der Klimawandel ist schuld, ist so nicht haltbar.“

Frühwarnsystem als Reaktion der Jahrhundert-Flut 2002 – ohne Erfolg

Anfang der 2000er Jahre entwickelten Hannah Cloke, Professorin für Hydrologie an der Universität Reading und zwei ihrer Kollegen das Europäische Hochwasserwarnsystem („Efas“) mit Blick auf genau eine Situation wie diese. Nach den katastrophalen Überschwemmungen in Mittel- und Osteuropa im Jahr 2002, bei denen in neun Ländern mindestens 110 Menschen ums Leben kamen, beschlossen sie, der Bevölkerung durch ihr Warnsystem Handlungsweisungen zu bieten. „Angesichts der Zahl der Todesfälle und der Höhe des Schadens hatten wir die Hoffnung, dass etwas Vergleichbares nie wieder geschieht“, sagte Cloke in der Times.

Die Algorithmen des Frühwarnsystems kombinieren Beobachtungen der Copernicus-Satelliten der Europäischen Union mit hydrographischen Aufzeichnungen und Messwerten von Pegelständen, um den nationalen Behörden bis zu zehn Tage Zeit zu geben, sich auf das Schlimmste vorzubereiten.

„Efas“ warnte detailliert und rechtzeitig – doch die Behörden reagierten unzureichend

Im Jahr 2014 verhinderten die Prognosen von „Efas“ das Schlimmste in Serbien, Bosnien und Kroatien: Die lokalen Behörden warnten die Bevölkerung auf Basis der Daten des Frühwarnsystems und evakuierten rechtzeitig die betroffenen Gebiete. Im Falle der Flut dieser Tage schlug das „Efas“-System erstmalig am 10. Juli an, vier Tage vor den ersten Überschwemmungen. Nach Informationen der Times wurden deutsche und belgische Behörden rechtzeitig vor der Hochwassergefahr im Rhein- und Massbecken gewarnt, doch die Warnung verhallte im Nichts, die Bevölkerung blieb weitestgehend unvorbereitet. „Efas“ erstellte Recherchen der Times nach minutiös detaillierte Diagramme, die die meisten Gebiete mit den stärksten Schäden erschreckend genau prognostizierten. Cloke sagte, es sei schwierig, Sturzfluten im Detail vorherzusagen, aber es sei „sicherlich Zeit“ gewesen, größere Städte mit Warnungen oder Evakuierungen auf die Gefahr vorzubereiten.

Mobilfunk und Festnetze überlastet oder ausgefallen

Ein grundsätzliches Problem besteht in der Art und Weise der Bevölkerungswarnung. Der deutsche Katastrophenschutz setzt bis auf weiteres fast ausschließlich auf die beiden Smartphone Apps „NINA“ und „KATWARN“, die die Bevölkerung vor Katastrophen dieser und anderer Art warnen sollen. Doch dieses Warnsystem fällt spätestens dann vollständig aus, wenn die Mobilfunkversorgung zusammenbricht, sei es durch Netzüberlastung, Schäden an der Infrastruktur durch Unwetter, Anschläge oder Cyber-Attacken oder schlicht durch einen Stromausfall. Auch längst nicht jeder Bürger verfügt trotz zunehmender Digitalisierung über ein Smartphone oder den dafür notwendigen Tarif. Die wenigsten Mobilfunksendestandorte verfügen zudem über Notstromversorgung, wie das Tech-Portal teltarif berichtet. Fällt der Strom aus sind auch die Mobilfunk- und Festnetze weitestgehend außer Funktion. Als Alternative stehen dann nur CB-Funk oder satellitengestützte Telefone zur Verfügung, der Otto-Normal-Verbraucher verfügt in der Regel nicht über derartige Geräte. Positives Beispiel: Die Stadt Rheinbach konnte während des großflächigen Mobilfunkausfalls auf eine Satellitentelefonverbindung auf Basis der internationalen Vorwahl +870 zurückgreifen und so ein Notfall-Bürgertelefon anbieten. Ein Beispiel, das bundesweit Schule machen sollte.

Niemand weiß so genau, wo die Warn-Sirenen stehen

Gegenüber T-Online räumte Innenminister Horst Seehofer (CSU) ein, ein Großteil der Bevölkerung sei nicht mittels Sirene gewarnt worden. In vielen Orten gäbe es kaum oder gar keine funktionstüchtigen Sirenen mehr, auch gibt es aktuell keine Übersicht über vorhandene Sirene, wo sie stehen und ob sie noch funktionstüchtig seien. Für München beispielsweise erklärte ein Feuerwehrsprecher, es gebe in der bayerischen Landeshauptstadt seit vielen Jahren gar keine Sirenen mehr. Sie seien nach dem Ende des Kalten Kriegs nach und nach abgebaut worden.

Ein Sprecher des Innenministeriums äußerte sich aber gegenüber T-Online, man sei seit dem Frühjahr in Abstimmung mit den Ländern, eine Sireneninfrastruktur aufzubauen und vorhandene Technologie zu reaktivieren. Hierfür sollen 88 Millionen Euro vom Bund bereitgestellt werden, die zukünftigen Wartungskosten müssten die Länder jedoch selber tragen.

Nationaler Warntag ein totaler Reinfall – Beispiel Israel zeigt wie es richtig geht

Im vergangenen September veranstaltete der deutsche Katastrophenschutz den nationalen „Warntag“, an dem wegen einer fiktiven Naturkatastrophe Menschen im ganzen Land gleichzeitig gewarnt werden sollten. Vorhandene Infrastruktur sollte getestet, die Bevölkerung sensibilisiert werden. Es war ein absolutes Debakel: Das Innenministerium bezeichnete die Aktion seiner Zeit als „fehlgeschlagen“, es kam zu diversen technischen Herausforderungen. Als Reaktion darauf kündigte man umfassende Aufarbeitung an – am Beispiel der Flutkatastrophe in Westdeutschland wird aber deutlich: Hohe Priorität hat die Entwicklung eines Bevölkerungswarnsystems bisher offenbar nicht gehabt. Wie Bevölkerungswarnung funktionieren kann zeigte indes Israel. Während der Angriffe der radikalislamischen Terrororganisation Hamas auf den Staat Israel warnten die Behörden mit einem dichten, landesweiten System an Sirenen, das weltweit einzigartige Raketenabwehrsystem „Iron Dome“ fing derweil die feindlichen Raketen treffsicher ab – die Kombination rettete viele Menschenleben.

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