Geheime Preisabsprachen aufgedeckt: Skandalöses Kastensystem der Pharmalobby in der EU

Symbolbild: Wavebreak Media / freepik

Die wenigsten Schwerkranken ahnen wohl, dass ihre Behandlungsoptionen auch davon abhängen, welche geheimen Preisabsprachen die Pharmaindustrie mit den EU-Gesundheitsbehörden trifft. Dabei gibt es beim Zugang zu lebenswichtigen Arzneimitteln ein regelrechtes „Kastensystem“, bestehend aus erster, zweiter und dritter Klasse. Den großen Reibach machen die Pharma-Giganten. Ein Blick hinter die diesbezüglichen heimlichen Kulissen offenbart Skandalöses.

Von Guido Grandt (gugramedia-Verlag)

Die europäische Journalistengenossenschaft Investigate Europe veröffentlichte vor Kurzem Recherchen über das geheime System von Preisabsprachen zwischen Pharmaunternehmen und EU-Staaten und wie diese sich gegenseitig ausspielen. Die himmelschreienden Ergebnisse betreffen jeden Einzelnen von uns. Zumindest jeden, der an einer schweren Krankheit wie beispielsweise Krebs leidet und von Behandlungsoptionen abhängig ist.

„Wo man lebt, sollte nicht darüber entscheiden, ob man lebt oder stirbt“

Im Prinzip geht es darum, dass die Gesundheitsbehörden der EU-Staaten in geheimen Absprachen mit der Pharmaindustrie davon ausgehen, Geld zu sparen. In Wirklichkeit jedoch zahlen die Regierungen oftmals immense Beträge für wichtige Arzneimittel, die Leben retten können. Mitunter haben sie sogar überhaupt keinen Zugang dazu, wie etwa Ungarn (dort fehlen 25 von 32 dieser Medikamente), Malta, Zypern, den baltischen Staaten oder Rumänien.

EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides brachte dieses Dilemma einmal – ob bewusst oder unbewusst, bleibt ungeklärt – auf den Punkt: „Wo Sie leben, sollte nicht darüber entscheiden, ob Sie leben oder sterben.“

Ein skandalöses „Kastensystem“ hinsichtlich des Arzneimittelzugangs

Der „Nichtzugang“ zu Medikamenten wiederum führt dazu, dass darauf angewiesene Patienten weiter leiden oder gar sterben müssen, weil die Pharmaunternehmen die Mittel zunächst in jenen Ländern auf den Markt bringen, die für sie profitabler sind.

Diesbezüglich bekennt Clemens Auer, der frühere Generaldirektor des österreichischen Gesundheitsministeriums: „Wenn es um den Zugang zu Arzneimitteln geht, haben wir eine erste, zweite und dritte Klasse europäischer Bürger – das ist ein Skandal.“ Ein anonym bleiben wollender Verhandlungsführer eines EU-Staates ergänzt zudem: „Diese Verhandlungen sind völlig geheim. Alles läuft in versiegelten Umschlägen ab, die gegen Unterschriften den Besitzer wechseln. Wir erfassen das nicht mal in unseren elektronischen Systemen. Denn wir wollen nicht, dass der Auftragnehmer dazu Zugang hat, der unsere Systeme wartet.“

Das hat natürlich Auswirkungen auf den Preis. Anstatt „gut und günstig“ heißt die Devise wohl „immer teurer“, obwohl die geheimen Verhandlungen und geschlossenen Verträge ja gerade abgeschlossen werden, um die steigenden Kosten der Arzneimittel zu begrenzen.

Jörg Indermitte, Leiter der Abteilung Arzneimittel beim Schweizer Bundesamt für Gesundheit, gibt zu, dass die Pharmakonzerne jedes Jahr mehr Geld für ihre Medikamente fordern. Ein neues Krebsmedikament kostet etwa 50.000 Franken (rund 52.000 Euro). Gegen Mukoviszidose mehr als 200.000 Euro und damit mehr als vierzigmal der geschätzten Produktionskosten. Für ein Mittel zur Behandlung von spinaler Muskelatrophie wurden gar 2,3 Millionen Euro (!) verlangt! Und auch ansonsten steigen die Preise für die sogenannten innovativen Medikamente stetig an.

Horrende Preise für lebenswichtige Arzneimittel

Die Recherchen von Investigate Europe ergaben zudem, dass reiche EU-Staaten häufig weniger für bestimmte Medikamente bezahlen, als die (ärmeren) mittel- und osteuropäischen Länder.

Beispielsweise beim Vergleich für eine Mukoviszidose-Behandlung stellte sich heraus, dass der durchschnittliche Preis ohne Mehrwertsteuer in Frankreich 71.000 Euro betrug, in Italien 81.000 Euro, in Spanien 87.000 Euro und in den Niederlanden 88.000 Euro. In Tschechien hingegen rund 140.000 Euro und in Litauen zirka 175.000 Euro.

Trotz oder gerade wegen dieser Kluft bezüglich des Zugangs innovativer Medikamente verdienen die Pharmaunternehmen kräftig daran. Kurzum: Sie saugen die Gesundheitssysteme regelrecht aus. Möglich wird dies vor allem durch die hohen Listenpreise, einem an und für sich künstlichen Preis. Das bestätigte sich auch, als die Preise des Covid-Impfstoffs von AstraZeneca bekannt wurden. Das Unternehmen hatte in Südafrika doppelt so viel für sein Mittel verlangt wie in der EU.

Die Pharmaindustrie gewinnt immer

Dabei entscheidet erst die Europäische Arzneimittelagentur (EMA), ob und welche Arzneimittel überhaupt Zugang zum europäischen Markt haben. Erst danach legen die Pharmafirmen fest, wo sie ein Medikament vermarkten wollen. Dazu treten sie zumeist selbst mit den einzelnen Ländern in Verhandlungen ein. Der dementsprechende Listenpreis wird von dem jeweiligen Staat festgelegt und danach mit der Pharmaindustrie über geheime Rabatte verhandelt.

Investigate Europe: „Für Pharmakonzerne bedeutet dies Milliarden an zinslosen Darlehen. Denn die Staaten zahlen zunächst den höheren offiziellen Preis für die Medikamente. Im Laufe der Zeit erstatten sie den Unternehmen diskret die Differenz zwischen dem offiziellen Listenpreis und dem Geheimbetrag. Allein in Belgien überwies der Staat den Unternehmen im Jahr 2023 so 1,5 Milliarden Euro. Je größer die Märkte, umso größer sind die Rabatte. Und je größer die Rabatte, umso größer sind die Rückerstattungen, welche die Industrie erhält.“

Pharmaindustrie droht mit Arzneimittel-Boykott

Allerdings liegt der Industrie nichts daran, die jeweiligen Verhandlungsergebnisse offenzulegen. Kein Wunder, dass die European Federation of Pharmaceutical Industries and Associations (Efpia), der größte Branchenverband der Arzneimittelproduzenten in Europa und damit der nationalen Verbände forschender Pharmaunternehmen sowie einzelner Pharmaunternehmen, jeglichen Kommentar zu den vertraulichen Geschäftspraktiken und den geheimen Preisabsprachen ablehnt. Vielmehr wird allgemein verkündet, es würde ein breiter Konsens darüber bestehen, dass die Preise die Zahlungsfähigkeit eines Landes für Medikamente widerspiegeln müssten. Deshalb wäre ein System vorstellbar, in dem EU-Länder, die weniger für Medikamente zahlen können, auch weniger zahlen.

Wer’s glaubt, wird selig, ist man versucht zu sagen.

Dabei hat die Efpia Macht. Etwa Macht anzudrohen, sollte der „Status quo der Geheimhaltung“ nicht aufrechterhalten werden, würden die dementsprechenden Märkte einfach boykottiert. Das bestätigt auch Francis Arickx, der Leiter des nationalen belgischen Gesundheitsinstituts: „Ich habe Hunderte dieser Verhandlungen geführt. Die Drohung, dass das Unternehmen nicht am Verhandlungstisch sitzen wird, hören wir ständig und überall.“ Luca Li Bassi, ehemaliger Leiter der italienischen Arzneimittelagentur, weiß ebenfalls: „Pharmaunternehmen können Regierungen ‚erpressen‘. Wenn Transparenz gefordert wird, drohen die Pharmaunternehmen, das Medikament nicht zu liefern.“
Investigative Europe: „Künftig könnte die Mauer der Geheimhaltung noch höher werden. Denn der Bundestag diskutiert momentan ein neues Gesetz für Medizinische Forschung. Damit würden die Preisanpassungen geheim bleiben, welche die deutschen Behörden nach einem Jahr vornehmen können. Die hohen offiziellen Listenpreise wären dann alles, was die Öffentlichkeit erfahren könnte.“

So also hängt wohl weiter das Leben, Leiden und/oder Sterben von schwerkranken Menschen von geheimen Verhandlungen zwischen raffgierigen Pharmakonzernen und boykottbedrohten europäischen Gesundheitsbehörden ab. Das ist ein Skandal, der nach wie vor unter dem Deckel gehalten wird!

Quellen:

Bücher von Guido Grandt finden Sie hier.

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