Berichte zeigen, dass die Türkei zu einem wichtigen Rückzugsort für den „Islamischen Staat“ avancierte. Auch funktioniert die Logistik für die Islamisten weiterhin. Die türkischen Strafverfolgungsbehörden reagieren nur zögerlich.
Zwei Berichte haben die Türkei kürzlich in eine unangenehme Lage gebracht. Der erste, ein offizieller Bericht der türkischen Behörde zur Untersuchung von Finanzkriminalität (MASAK), enthüllte, dass die IS-Waffenlieferkette in Mersin, einer Hafenstadt im Süden der Türkei an der östlichen Mittelmeerküste, angesiedelt ist. Drei Unternehmen sollen daran beteiligt gewesen sein, und ein in China geborener Uigure lieferte Material für den Verkauf von bewaffneten Drohnen und die Herstellung von chemischen Waffen. Alle drei Unternehmen waren von 2015 bis 2017 im Auftrag des „Islamischen Staates“ als Beschaffungsbeauftragte für Drohnen und IED-Ausrüstung tätig. IEDs sind improvisierte explosive Geräte – also mit einfachen Mitteln hergestellte improvisierte Sprengsätze.
Waffenlieferungen nach Syrien im Auftrag der Türkei?
Zweitens gab der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan in einem Fernsehinterview bekannt, dass der türkische Geheimdienst (MİT) Nuri Gökhan Bozkır in der Ukraine gefangen genommen habe. Bozkır wird verdächtigt, an der Ermordung von Necip Hablemitoğlu beteiligt gewesen zu sein, einem in kemalistischen Kreisen beliebten Akademiker, bevor er am 18. Dezember 2002, unmittelbar nach der Machtübernahme der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP), ermordet wurde. Erdoğan behauptet auch, dass Bozkır Verbindungen zur verbotenen Gülen-Bewegung hat, die von den türkischen Behörden gemeinhin als Fethullah-Terrororganisation (FETÖ) bezeichnet wird, benannt nach ihrem im Exil lebenden Führer, Muhammed Fethullah Gülen, dessen Organisation (siehe hier und hier) eng mit der CIA verbunden ist. Außerdem soll er Waffen und Munition an den „Islamischen Staat“ geliefert haben.
Nach der Festnahme von Bozkır sind weitere Informationen über seine Verwicklung in den Waffenhandel aufgetaucht. Als ehemaliger Angehöriger der türkischen Spezialeinheiten behauptete er, er habe von 2012 bis 2015 im Auftrag der Türkei Waffen aus Osteuropa und Zentralasien gekauft und nach Syrien geliefert. Nach eigenen Angaben hat Bozkır insgesamt 49-mal Waffen an syrische Turkmenen verschickt und sie als Kisten mit Lebensmitteln und Gemüse getarnt. Bozkır ist möglicherweise stärker mit dem türkischen Establishment verstrickt, als ursprünglich angenommen. 2017 war die Türkei auf der Suche nach einem Motor für ihren einheimischen Kampfpanzer ALTAY. Sowohl die Regierung als auch der Auftragnehmer TÜMOSAN hatten eine Vereinbarung mit dem staatlichen ukrainischen Waffenhersteller UkrOboronProm getroffen. Wie sich herausstellte, war Bozkır ein Partner der türkischen Vertretung des Unternehmens, Delta Defence Savunma LTD.
Obwohl seine Verbindungen zum „Islamischen Staat“ weniger dokumentiert sind, war Bozkır ein Verdächtiger in einem Fall, bei dem 2015 in Akçakale, Şanlıurfa, Ausrüstung für improvisierte Sprengsätze (IED) gefunden wurde, und wurde wegen Waffenlieferungen an die IS-Terrormiliz und Mitgliedschaft in der extremistischen Gruppe gesucht.
Lange Liste von Personen mit IS-Verbindungen in der Türkei
Bozkır war jedoch nicht der einzige Flüchtige, der in dem Land mit dem IS in Verbindung gebracht wurde. Der Verdächtige des tödlichsten Terroranschlags in der modernen Türkei – des Bahnhofsmassakers von Ankara am 10. Oktober 2015 – war Mustafa Dokumacı, dem es dennoch gelang, aus dem Land zu fliehen. Seine aserbaidschanische Ehefrau, Ulkar Mammadova, sagte der Polizei, dass sie und Dokumacı bei dem Versuch, 2014 die Grenze zu überqueren, von türkischen Soldaten unterstützt wurden. Sie behauptete, ihr Mann sei später bei einem Drohnenangriff im Jahr 2020 getötet worden. Nach ihrem Geständnis wurden sechs Frauen, darunter Mammadova und einige andere Ehefrauen hochrangiger IS-Führer, per Gerichtsbeschluss freigelassen. Mammadova stand auf der „Selbstmordattentäter“-Liste der türkischen Polizei.
Im vergangenen Jahr wurde außerdem bekannt, dass der IS-Führer Jamal Abdel Rahman Alwi, der beschuldigt wird, die Fatwa zur Verbrennung zweier türkischer Soldaten erlassen zu haben, frei war und in Gaziantep (Türkei) ein Vogelgeschäft betrieb. Er wurde erst nach dem darauffolgenden öffentlichen Aufruhr verhaftet. Letztes Jahr wurde ein ranghoher Mann, bei dem es sich um den türkischen IS-Führer Abu Osama Al-Türki handeln soll, in Syrien verhaftet und vom MİT in die Türkei gebracht, der von einem Plan zur Durchführung einer groß angelegten Operation durch die illegale Einreise mit Sprengstoff in die Türkei erfahren hatte.
Ein weiteres mutmaßliches IS-Mitglied, Muhammed Cengiz Dayan, wurde beschuldigt, der Anführer der aserbaidschanisch-türkischen Abteilung der Terrorgruppe zu sein. Obwohl er die Vorwürfe seiner Beteiligung an dem Massaker von Ankara bestritt, wurde er zu einer Haftstrafe von 10 Jahren, 10 Monaten und 37 Tagen verurteilt. Der Anwalt Eylem Sarıoğlu erklärte dem Gericht jedoch, dass Dayan trotz aller gesammelten Beweise bereits zweimal vor 2017 verhaftet und wieder freigelassen worden war.
Im Februar 2021 gab die türkische Gendarmerie bekannt, dass der Finanzchef des „Islamischen Staates“ verhaftet worden sei. Es gab jedoch einen interessanten Zufall: Dieses IS-Mitglied wurde in Mersin gefasst, das laut MASAK-Bericht das Zentrum des IS-Waffenhandels ist. Medienberichten zufolge ist Mersin die Hauptstation für IS-Kämpfer, die als Flüchtlinge getarnt nach Europa reisen. Ein weiterer IS-Akteur, der ehemalige „Finanzminister“ der Organisation, Sami Dschasim [al-Dschuburi], wurde laut Reuters mit Hilfe des türkischen Geheimdienstes MİT von der irakischen Regierung gefasst. Es hieß, Dschubiri habe sich im Nordwesten Syriens aufgehalten, sei aber in der Türkei festgenommen worden.
Es gibt weitere interessante Berichte über die Handelsaktivitäten des „Islamischen Staates“ in der Türkei. Der türkische Staatsbürger Ömer Yetek wurde im Jahr 2020 aus der Haft entlassen. Yetek ist der so genannte „Medienminister“ der Terrororganisation, der grausame Aufnahmen von türkischen Soldaten bei deren Verbrennung gemacht und später veröffentlicht hat. Yetek wurde dann zum Informanten, aber es hat sich herausgestellt, dass eine seiner drei Firmen, die er während seiner Zeit beim IS nutzte, immer noch in der Türkei tätig ist. Im Jahr 2019 bezeichnete das US-Finanzministerium zwei türkische Staatsbürger und vier Unternehmen als Teil der „ISIS-Finanz-, Beschaffungs- und Rekrutierungsnetzwerke im Nahen Osten und Südasien„.
Zwei Jahre später, im Jahr 2021, wurde ein Dekret des türkischen Präsidenten erlassen, mit dem das Firmenvermögen dieser beiden türkischen Staatsbürger eingefroren wurde. Eines ihrer Unternehmen, das Unternehmen Tawasul, hatte jedoch im Februar 2020 mit der Auflösung begonnen und diese im September 2020 abgeschlossen. Als die türkischen Behörden handelten, existierte die Tawasul-Gesellschaft nicht mehr. Im Januar letzten Jahres schließlich hob ein türkisches Gericht das Urteil über das Einfrieren von Vermögenswerten gegen das türkische Unternehmen Al Alamia wegen „fehlender vernünftiger Gründe“ auf. Al Alamia wurde beschuldigt, von Reyhanli (Hatay) aus IS-Operationen zu finanzieren.
Türkisches Establishment scheint Verbindungen zum IS zu unterhalten
In einer parlamentarischen Anfrage wollte der Abgeordnete Alpay Antmen, Mitglied der größten Oppositionspartei CHP, von Innenminister Süleyman Soylu Antworten in Bezug auf den Waffenhandel des „Islamischen Staates“ in der Türkei. Insbesondere wollte Antmen wissen, ob es eine laufende Untersuchung gegen IS-Verdächtige gibt. „Es scheint, dass die Sicherheitskräfte diese Verdächtigen jahrelang überwacht haben“, sagt er. Antmen zufolge bleibt eine entscheidende Frage unbeantwortet: wie die türkischen Behörden diesen IS-Verdächtigen erlaubten, ein Unternehmen auf türkischem Boden zu betreiben, und wie einem von ihnen, dem in Aleppo geborenen IS-Verdächtigen Hag Geneid, 2017 die Staatsbürgerschaft verliehen wurde – demselben Geneid, der 2019 auf mysteriöse Weise von einem türkischen Staatsanwalt als „nicht bestrafbar“ eingestuft wurde.
All dies ist nur ein Teil des Ganzen, doch allein dies verdeutlicht, dass es im türkischen Establishment einige Kräfte gibt, die enge Beziehungen zum „Islamischen Staat“ unterhalten und diese Terrormiliz auch aktiv unterstützen. Aus welchen Gründen auch immer.