Mit einer flammenden Rede hat der ehemalige tschechische Präsident Václav Klaus das “Alternative WEF” in Prag eröffnet: Er demontierte dort die westliche Ideologie und analysierte die Entwicklung Europas aus seiner ganz eigenen Perspektive. Als Ministerpräsident und Staatspräsident habe er die Tschechische Republik in die EU gebracht, gestand er – doch schon früh erkannte er, in welche fragwürdige Richtung sich der Staatenbund bewegte. Seine Versuche, diese Entwicklung aufzuhalten (etwa durch die Blockade des Vertrags von Lissabon), scheiterten. Wir veröffentlichen Václav Klaus’ Eröffnungsrede an dieser Stelle in voller Länge.
Eröffnungsrede von Václac Klaus auf der AWEF-Konferenz in Prag:
Sehr geehrte Damen und Herren,
vielen Dank für die Einladung zu Ihrer heutigen Veranstaltung. Ich möchte sagen, dass ich es wirklich sehr hoch schätze, dass Sie dieses Treffen hier in Prag organisieren. Ihre Entscheidung kann eine rationale Erklärung haben. Trotz aller Schwierigkeiten bleibt die gesellschaftliche Debatte hier, in der Tschechischen Republik, immer noch freier als in unseren westlichen Nachbarländern. Die Ursache ist unsere kommunistische Vergangenheit. Sie hat in dieser Hinsicht unsere Augen geöffnet.
Das sagt leider nichts über die heutige tschechische Regierung, die alles Mögliche tut, um das heutige westeuropäische Niveau von Freiheit und Demokratie, das heißt – wie ich es sehe und interpretiere – der Unfreiheit und der Undemokratie, so schnell wie möglich zu erreichen. Wir werden sehen, ob unsere Parlamentswahlen im nächsten September daran etwas ändern werden. In dieser Hinsicht bin ich kein Optimist.
Man braucht Symbole. Für mich ist eines von diesen Symbolen dieses Hotel. Zum letzten Mal war ich hier im Jahre 2008 auf meinem letzten ODS-Kongress. Einige von Ihnen wissen vielleicht, dass die ODS die Bürgerliche Demokratische Partei ist, die ich im Jahr 1991 gegründet und mit der ich die zwei nächsten Parlamentswahlen gewonnen habe.
Bis 2002 war ich ihr Vorsitzender. Sie war die einzige wirklich rechtsorientierte und konservative politische Partei im Land. Von 2002 an war ich ihr Ehrenvorsitzender. Die Entwicklung dieser Partei, ähnlich wie die politische und ideologische Entwicklung in der gesamten Tschechischen Republik und in ganz Europa, hat sich allmählich in Richtung der heutigen postpolitischen, postdemokratischen Welt bewegt. Aus diesem Grund habe ich hier in diesem Saal meinen Ehrenvorsitz aufgegeben.
Ich wollte nicht mehr dabei sein. Schon damals habe ich die mächtigen Tendenzen der westlichen Welt ganz klar gesehen und verstanden. Sie drohten, uns in die tragische Welt von heute zu bringen. Ich erinnere mich hier heute an diese Geschichte nicht zufällig. Sie ist relevant für das Thema der heutigen Konferenz.
Als ich Ihre Einladung bekommen habe, war ich überrascht, dass Sie hier heute über die freie Welt, die Gesundheit und die Medizin, die Demokratie, die Werte und die Gesellschaft usw. von morgen sprechen wollen. Warum von morgen? Es motiviert die Menschen, über ihre Wünsche und Träume zu sprechen, nicht über die Realität und die Haupttendenzen der heutigen Welt. Ich fühle es sehr intensiv. Das Wunschdenken ist der Fluch unserer Zeit. Damit möchte ich betonen, dass wir über die Welt von heute sprechen sollen. Wir sollten die heutigen Tendenzen analysieren und ohne Wünsche und Träume extrapolieren.
Aus der Korrespondenz mit den Organisatoren der heutigen Veranstaltung und mit den Vertretern von Auf1 verstehe ich, dass Sie die heutigen Tendenzen ebenso kritisch sehen wie ich. Ich mag den großen Schriftsteller Stefan Zweig und sein Buch „Die Welt von Gestern“. Das bedeutet aber nicht, dass ich in die Vergangenheit gehen möchte. Die Aufgabe der heutigen Zeit ist es, die Überreste (oder vielleicht nur die Ruinen) der gestrigen Welt zu retten. Mehr zu erreichen, gehört für mich schon zur Wunschwelt. Das zu sagen, verrät wahrscheinlich mein Alter, aber auch meine Erfahrungen.
Anfangs der 90er Jahre habe ich das Konzept der Transformation der tschechischen Gesellschaft und Wirtschaft nach dem Fall des Kommunismus formuliert und teilweise auch durchgesetzt. Zur Verwunderung und zum Unverständnis der deutschen und österreichischen Politikern und Journalisten war mein bekannter Slogan von damals „der Markt (oder die Marktwirtschaft) ohne Adjektive“. Alle wollten die soziale Marktwirtschaft. Diese Idee scheint mir heute nicht weniger wichtig zu sein als damals. Heute brauchen wir nicht nur die Marktwirtschaft, sondern auch die Demokratie ohne Adjektive. Das heutzutage propagierte Konzept der „liberalen Demokratie“ ist eine Karikatur der Demokratie und wird von Menschen missbraucht, die Demokratie und Freiheit im Prinzip ablehnen. Die heutige liberale Demokratie ist weder liberal noch demokratisch.
Die in dem dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts dominante Ideologie (in ihren verschiedenen Verkleidungen) spricht ganz absichtlich nicht über die Freiheit. Dazu nur ein paar Bemerkungen.
Die wichtigste Rolle spielt heute die Ideologie des Multikulturalismus, die die Massenmigration produziert, lobt und verteidigt. Diese Ideologie kennt das Wort Freiheit gar nicht. Sie ist im Prinzip gegen die Hauptinstitution der Demokratie, gegen den Nationalstaat, aggressiv orientiert. Die Nation ist aber ohne Zweifel das grundsätzliche und unersetzbare Element der menschlichen Gesellschaft. Unsere Erfahrung lehrt uns, dass die Demokratie in einer Welt ohne Grenzen nicht existieren kann. Die Freiheit auch nicht.
Die grüne Ideologie, der Environmentalismus (oder vielleicht Ökologismus), lehnt die Marktwirtschaft resolut ab. Sie bemüht sich, die Autonomie der Wirtschaft zu liquidieren und, wie in der kommunistischen Ära, stellt sie die Wirtschaft in eine Unterordnung, in eine untergeordnete Position zur Politik. Das beste Beispiel davon ist der Green Deal, der einer uns gut bekannten sowjetischen Planwirtschaft sehr nahesteht.
Der heute mächtige Genderismus (und der radikale Feminismus) attackiert die biologische Substanz des Menschen und damit die elementare Basis der menschlichen Gesellschaft, die die Familie darstellt. Ich hoffe, dass sie das hier heute auch besprechen werden.
Ein wichtiger Teil der heute dominanten Ideologie ist auch der Globalismus (und Kontinentalismus). Auf der Ebene des Kontinentes oder der ganzen Welt gibt es kein Volk, keine Demos und daher auch keine Demokratie. Auch die heutige Europäische Union ist eine Entität ohne Demos und damit ohne Demokratie.
Als Ministerpräsident und Staatspräsident der Tschechischen Republik habe ich – das muss ich gestehen – die Tschechische Republik in die EU gebracht. Als postkommunistisches Land hatten wir, vor einem Vierteljahrhundert, keine verständliche und erklärbare Alternative. Mein bekannter Versuch, im letzten Moment die Notbremse zu ziehen und den Vertrag von Lissabon nicht zu unterschreiben, war vergeblich. Als Konsequenz davon hat sich die europäische Integration in den letzten Jahrzehnten definitiv in eine politische Unifikation verwandelt. Die Idee der freundschaftlichen und für alle vorteilhaften Zusammenarbeit der souveränen europäischen Länder gehört schon nur der Vergangenheit an.
Diese meine kurze Beschreibung der heutigen westlichen Welt und ihrer Ideologien könnte ich noch länger fortsetzen, aber das ist nicht das Ziel und bestimmt nicht die Aufgabe der Eröffnungsrede. Im September dieses Jahres habe ich in Stuttgart eine längere Rede auf Deutsch zu diesen Themen gehalten. Sie können sie auf meiner Webseite finden.
Ich bin nicht der Einzige, der sagt, dass sich der gesamte Westen, insbesondere Europa, im Niedergang befindet. Die Herausforderung unserer Zeit besteht darin, zu verhindern, dass sich der heutige Niedergang auch morgen fortsetzen wird. Konferenzen wie die heutige können damit helfen.
Zum Schluss möchte ich ein paar Bemerkungen zu dem – für mich wichtigsten – Thema von heute, dem russisch-ukrainischen Krieg, machen. Ich würde es für feige halten, zu diesem Thema zu schweigen. In unserem Land haben wir – pro Kopf – mehr ukrainische Flüchtlinge als jedes andere Land der Welt. Das kann man mit Deutschland und Österreich nicht vergleichen.
Ich bin frustriert nicht nur über das, was Russland am 24. Februar 2022 getan hat, sondern viel mehr über das, was die Welt, die Großmächte und die internationalen Organisationen erlaubt haben. Keine internationale Organisation hat im ganzen Jahrzehntel davor reagiert. Einige haben sogar Öl ins Feuer gegossen. Nicht nur nach dem 24. Februar, sondern – was noch wichtiger war – vor diesem Datum. Frau von der Leyen verkündete kürzlich, dass sie seit Februar 2022 acht Mal in Kiew gewesen sei. Meine Frage an sie wäre: „Wie oft war sie vorher dort? Sowohl vor 2022 als auch und vor allem vor 2014?“ Alles deutet darauf hin, dass dies die Momente waren, in denen alles begann. Alles andere ist die Folge davon.
Ich sehe einen möglichen Ausweg aus dieser scheinbar unlösbaren Situation darin, die Realität zu akzeptieren und eine Kompromisslösung zu finden. Die Welt hat diese Chance im Jahr 2014 verpasst. Sie hat sie im März 2022 wieder verpasst, als die Istanbuler Verhandlungen gewisse Lösung anboten. Wir haben kein Recht, sie in der neuen Situation nach Trumps Wahlsieg erneut zu verpassen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und ich wünsche Ihnen ein produktives Treffen.
Václav Klaus, Alternative Western Ethics Formation Konferenz, Prag,12. Dezember 2024