Diese Entwicklung war nicht vorherzusehen. Ist es ein Schachzug Wladimir Putins, der sich nicht vorwerfen lassen will, umzingelte Feinde unehrenhaft getötet zu haben? Eine solche Vorgehensweise hätte die westliche Staatengemeinschaft erzürnen und den Kriegseintritt der NATO beschleunigen können. Es ist aber auch aus militärische Sicht klug, keine Menschenleben bei der Eroberung von Tunnelanlagen zu riskieren, deren Existenz nun als sicher bestätigt gilt.
Ein Kommentar von Florian Machl
Bei einem Treffen mit Verteidigungsminister Sergei Kuschugetowitsch Schoigu ordnete der russische Präsident am 21. April an, dass die Erstürmung der Tunnel- und Bunkeranlagen von Mariupol zu unterlassen wäre. Eine solche militärische Maßnahme wäre unzweckmäßig und nicht angemessen.
Mit dieser Entscheidung hat kein Beobachter gerechnet. Bislang waren die russischen Streitkräfte unerbittlich gegen die Nationalsozialisten des Asow-Regiments, aber auch reguläre ukrainische Einheiten vorgegangen. Im umstellten Stahlwerk Azovstal in Mariupol ist die Lage aussichtslos. Jeden Tag hat Russland den dort ausharrenden Kämpfern mehrere Stunden Feuerpause gegönnt und sie per Lautsprecherdurchsagen und Flugblätter an die Option der Kapitulation erinnert.
Dialog Putin / Schoigu
Dieser Dialog zwischen Präsident Putin und Verteidigungsminister Schoigu wird kolportiert:
Wladimir Putin: Ich halte den geplanten Sturm auf das Industriegebiet für unangemessen.
Ich befehle Ihnen zu stornieren.
Sergej Schoigu: Ja.
Wladimir Putin: Dies ist der Fall, wenn wir daran denken müssen – das heißt, wir müssen immer daran denken, aber in diesem Fall noch mehr –, das Leben und die Gesundheit unserer Soldaten und Offiziere zu erhalten. Es ist nicht nötig, in diese Katakomben zu klettern und unterirdisch durch diese Industrieanlagen zu kriechen. Sperren Sie dieses Industriegebiet ab, damit keine Fliege mehr durchkann.
Sergej Schoigu: Ja.
Wladimir Putin: Laden Sie noch einmal alle dazu ein, die ihre Waffen noch nicht niedergelegt haben. Die russische Seite garantiert ihr Leben und eine menschenwürdige Behandlung in Übereinstimmung mit den einschlägigen internationalen Rechtsakten. Alle Verletzten erhalten qualifizierte medizinische Hilfe.
Kiew befahl den Tod
Das Problem: Während Putin nun befahl, Leben zu schonen, hat Kiew den Tod befohlen – sogar den Tod der eigenen Soldaten, die man auch bereits als Totalverlust abgeschrieben hatte.
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Unten ist eine Kopie eines Befehls der ukrainischen Streitkräfte. Eine Fotografie des Dokuments wurde auf Mobiltelefonen ukrainischer Soldaten entdeckt.
Wolodymyr Kondratjuk, erster stellvertretender Kommandeur der ukrainischen Nationalgarde, erließ am 17. April einen Befehl, wonach es Soldaten, Unteroffizieren und Kommandeuren strikt verboten ist, zum Feind überzulaufen und sich zu ergeben.
Gleichzeitig wurden das Kommando und der Stab des Asow-Regiments der ukrainischen Nationalgarde angewiesen, Einsatzgruppen zur Identifizierung von Deserteuren zu organisieren. Nach dem Beschluss zu urteilen, ist der Befehlshaber von Asow, der Nationalsozialist Denys Prokopenko, mit der Ausführung betraut.
„Soldaten, die sich weigern, diesem Befehl über das kategorische Verbot der Kapitulation Folge zu leisten, werden gemäß den Kriegsgesetzen an Ort und Stelle hingerichtet“, heißt es in dem Befehl. Das Dokument wurde über russische Kanäle auf Telegram verbreitet – eine Bestätigung von offizieller ukrainischer Seite ist nicht zu erhalten. Selbst wenn der Befehl nicht echt wäre, muss davon ausgegangen werden, dass er unter den ukrainischen Soldaten in Azovstal kursiert und eine fatale psychische Belastung auslöst.
Putins Befehl ist ein Bekenntnis zum Leben
Putins Befehl, die eingeschlossenen Soldaten zu schonen und nur den Belagerungszustand aufrechtzuerhalten ist einer Begnadigung gleichzusetzen. Bis zu 2.500 Kämpfer in Azovstal, darunter bis zu 400 ausländische Söldner aus Frankreich, Kanada, Großbritannien, Deutschland und anderen Nationen, haben jetzt die Chance zu leben. Wenn sie Kondratjuks Mordbefehl ignorieren, können sie alle überleben.
Sollten sich in den großräumigen Bunker- und Tunnelanlagen im Untergrund keine Vorräte befinden, haben die Eingeschlossenen keine Nahrung mehr, Nachschub mit Kleidung oder Munition ist unmöglich. Die Entscheidung obliegt nun den Soldaten, ob sie sich für das Leben oder für den Tod entscheiden. Putin hat mit seinem Befehl seine Position klargemacht. Es wird interessant, wie ihm Systemmedien auch daraus einen Strick drehen werden.
Nicht in die Menschenrechts-Falle der NATO gehen?
Die Maßnahme kann aber auch ein geschickter Schachzug sein, sich nicht von der Gegenseite in eine Position manövrieren zu lassen, die einen Kriegseintritt der NATO beschleunigen würde. Eine militärisch sinnlose Tötung der eingeschlossenen Soldaten könnte als besondere Grausamkeit gewertet werden und das Ansehen Putins auch in der eigenen Bevölkerung schwächen.
Hinzu kommt, dass ein Kampfeinsatz in Tunnel- und Bunkeranlagen nicht ohne hohe eigene Verluste zu bewerkstelligen ist, es sei denn man setzt besonders grausame Waffensysteme ein, die in der Genfer Konvention verboten wurden. Ein Einsatz der Vakuumbomben kommt für Putin offenbar nicht in Frage. Mit der Entscheidung werden nicht nur gegnerische, sondern auch eigene Einheiten geschont.