Die Physiotherapeutin Tamara Haas ist Spezialistin für Selbstbehandlung und weiß, wie wichtig es ist, dass Menschen in die Eigenverantwortung kommen. Warum man eine Diagnose nicht einfach schweigend hinnehmen sollte und wie man einfache Behandlungsgriffe in kürzester Zeit erlernen kann, erzählt sie unserer Redakteurin Edith Brötzner im Klartext Interview.
Ein Interview mit Edith Brötzner
Die engagierte Physiotherapeutin Tamara Haas kennt nicht nur die Behandler-Seite, sondern ist auch seit über 30 Jahren selber Patientin. Bereits in ihrer Kindheit wurde sie mit zahlreichen Diagnosen, Lungenerkrankungen und verminderter Lungenfunktion konfrontiert. Mit dreizehn Jahren wurde sie nach einem Skiunfall am Knie operiert und von den behandelnden Ärzten vor vollendete Tatsachen gestellt: Knie und Bein unheilbar und nicht mehr verwendbar. Während sie diese Diagnose der „Götter in Weiß“ anfangs hinnahm und sich ihrem Schicksal fügte, wurde sie bald darauf während einer Behandlung von einer jungen Physiotherapeutin eines Besseren belehrt: „Hat der Arzt, der dir gesagt hat, dass dein Fuß nicht mehr wird, seine Kristallkugel dabeigehabt? Das ist nur eine Diagnose auf einem Zettel. Wie das ausgeht, bestimmst du selber.“
Selbstbehandlung statt Abhängigkeit
Acht Jahre nach ihrem Verspechen an die Physiotherapeutin, dass sie weitermacht und nicht aufgibt, konnte Tamara Haas ihr Bein wieder vollständig bewegen. Durch diese Begegnung war auch die Entscheidung für ihre eigene Berufslaufbahn gefallen: Sie wurde Physiotherapeutin. Tamara Haas war schon in ihrer Ausbildung eine unbequeme Studentin und sieht viele Dinge, die in der Medizin passieren, kritisch. Die Realität sieht ihrer Meinung nach anders aus als das, was vielfach in den Köpfen abgespeichert ist. Sie versucht Menschen in die Selbstwirksamkeit zu bringen und zeigt ihnen die wichtigsten Tools der Selbstdiagnose und -behandlung. Was die Kollegen aus den Gesundheitsberufen nicht gerne sehen: Sie bringt ihren Klienten Behandlungsgriffe bei, mit denen sie sich selber behandeln können und macht sie somit unabhängig. Damit bricht sie ein Dogma im Gesundheitsbereich und dreht das gängige Machtgefüge um.
Wir schießen mit Kanonen auf Spatzen
Den Begriff „Patient“ lehnt die Physiotherapeutin ab, weil Patient übersetzt „der seine Leiden still erträgt“ heißt. Tamara Haas setzt auf Selbstwirksamkeit statt passivem „Behandlungsertragen“. Selbst wenn alle Menschen Zugang zu ihrem Wissen hätten, sieht sie keinen Klientenmangel. „Schmerzpatienten“ gibt es genug. Auch in Schulen werden ihre Methoden dankbar angenommen. Dank weniger erlernter Handgriffe können sich bereits Fünfzehnjährige bei kleinen Verletzungen im Sportunterricht selber helfen. Für Tamara Haas ist klar: Es gibt niemanden, der das nicht kann und die Selbstbehandlung ist völlig ungefährlich. Sie weiß auch, dass im Gesundheitssystem einiges falsch läuft: „Wir schießen immer erst mit Kanonen auf Spatzen. Erst wenn dann nichts mehr geht, dürfen die Alternativen ran.“ Den Umgang mit den Menschen, die in der Corona-Zeit nicht behandelt wurden, sieht sie kritisch. Obwohl sie jedem Behandler die Entscheidung lässt, wie er mit der Situation umgeht, ist für die Physiotherapeutin klar: Sie könnte keine Menschen ausschließen. Vor allem jene, die permanent Reha und Therapie brauchen und keine Medikamente nehmen dürfen, sind die Leidtragenden der Coronazeit, denen man die Behandlung verwehrt.
Physiotherapeuten wollten im Lockdown behördlich gesperrt werden
Katastrophal sieht Tamara Haas auch das Verhalten einiger Branchenkollegen. Während für sie von Anfang an klar war, dass in Krisenzeiten besonders die Gesundheitsberufe für die Menschen da sein müssen, standen die Physiotherapeuten im ersten Lockdown in der Zeitung, weil sie zwecks Verdienstausfallentschädigung behördlich gesperrt werden wollten. Wie man sich in diesem Job daheim einsperren und Kostenersatz verlangen kann, ist für Tamara Haas unverständlich. Für sie ist wichtig, dass jeder darauf achtet, wo seine rote Linie überschritten ist und was jeder mit sich moralisch vereinbaren kann. Sie wünscht sich aber auch von den Patienten Verständnis für die Kollegen in den Gesundheitsberufen. Nicht jeder hat eine eigene Praxis und viele sind von ihren Vorgesetzten beruflich abhängig. Ebenso setzt sie darauf, dass die Behandler den Patienten gegenüber Verantwortung übernehmen und diese ordentlich behandeln.
Kostenlose Behandlung im Rahmen eines Vereines
Um ihr Wissen möglichst breit zu streuen, hat die findige Physiotherapeutin in den letzten zwei Jahren einen umfangreichen Onlinekurs produziert. Diesen stellt sie den Menschen im Rahmen ihres Vereines „Akademie WissenSchafft Gesundheit“ zur Verfügung. Vor allem für Menschen, die in ihrer Angst gefangen sind und sich nicht mehr hinaus trauen, eine große Erleichterung. Im Rahmen des Vereines stellt sie auch ein Kontingent an Behandlungsstunden kostenlos zur Verfügung. Der Kostenfaktor ist überschaubar. Die Vereinsmitgliedschaft ist mit 20 € jährlich für jeden erschwinglich. Vereins-Unterstützer (Ärzte, Behandler, …) werden – ebenso wie Hilfesuchende – täglich mehr. Der Bedarf ist enorm. Durch die Notlage beginnen die Menschen zusammenzuhalten und sich gegenseitig zu helfen.
„Eine Diagnose ist nur ein Wort auf einem Zettel.“
Inzwischen wissen auch Unternehmen und Konzerne, wie wichtig und budgetschonend eine ordentliche Gesundheitsvorsorge ist und schenken ihren Mitarbeitern die Vereinsmitgliedschaft oder unterstützen diese mit Kursen zur Selbstbehandlung von Tamara Haas. Wesentliche Teile ihres Wissens hat die Physiotherapeutin in ihren Büchern „Geheilt“ und „Geschafft“ festgehalten. In dieser Literatur geht es vor allem darum, zu zeigen, was alles möglich ist, sich selber analysieren zu lernen und Hilfestellung anzubieten.
Tamara Haas appelliert an die Menschen: „Ihr bekommt vielleicht Diagnosen. Eine Diagnose ist nur ein Wort auf einem Zettel und du kannst dich selber entscheiden, ob du diesen ein Leben lang vor dir herträgst. Oder du siehst das als Startlinie, von der aus du losgehst. Eine Diagnose ist der Anfang und nicht der Schluss. Du musst dich deinem Schicksal nicht einfach fügen.“