In den frühen Morgenstunden am Dienstag wurde er erstellt, am Vormittag hatte er bereits 2000 Abonnenten, man konnte beinahe zusehen wie der Account mit jeder Minute wuchs. Mutmaßlich Julian Reichelt selbst holte nach seinem Rauswurf bei BILD zum Gegenschlag aus und erstellte einen Telegram-Kanal, der in den Abendstunden bereits mehr als 50.000 Abonnenten hatte. Doch am Ende kam alles ganz anders.
Von Max Bergmann
„Unliebsame Journalisten“, Kollegen die den Finger in die Wunde stecken, der Regierung auf den Zahn fühlen und nicht nachgeben, auch wenn’s ungemütlich wird: So einer war Julian Reichelt, Ex-Chef bei der deutschen BILD-Zeitung. Er war nicht überall beliebt, sicher ein streitbarer Kollege, doch alles im allen tat er das, was interessierte Leser erwarten: Er hinterfragte, er gab nicht auf und war sich nicht zu schade, das Kind beim Namen zu nennen. Insbesondere die nun nur noch geschäftsführende deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und ihre desaströse Zwangsmaßnahmen-Politik fand in Reichelts Worten regelmäßig scharfe Kritik. Fast ungewohnt heftige Kritik, für einen Journalisten eines deutschen Mainstream Mediums.
New York Times bringt Reichelt zu Fall
Umso überraschender war es, dass nicht etwa ein deutsches Medium Julian Reichelt zu Fall brachte, es war die New York Times, die am Sonntagabend einen Bericht über die Unternehmenskultur im Axel-Springer-Verlag und BILD insbesondere veröffentlichte, und Julian Reichelt darin scharf kritisierte. Der Bericht enthielt Details über das Verhältnis Reichelts zu Frauen am Arbeitsplatz, über mutmaßliche Affären und Machtmissbrauch. Auch das Investigativteam der deutschen Ippen-Gruppe, zu der unter anderem „Frankfurter Rundschau“, „Münchner Merkur“ und „Buzzfeed Deutschland“ gehören, hat in diesem Fall recherchiert, die geplante Berichterstattung aber aus bislang nicht näher bekannten Gründen kurzfristig gestoppt. Reichelt wurde währenddessen am Montag seiner Funktionen im Axel-Springer-Verlag enthoben und entlassen.
Reichelt schweigt zu Vorwürfen
Der Spiegel veröffentlichte nun Ausschnitte der Recherchen der Ippen-Gruppe. Der Bericht beschäftigt sich hauptsächlich mit Vorwürfen, Reichelt habe seine Position gegenüber weiblichen Kolleginnen regelmäßig missbraucht. Er habe sich „häufig nach demselben Muster“ ihm unterstellten Frauen angenähert, sie für ihre Arbeit gelobt, ihnen verantwortungsvolle Aufgaben anvertraut oder sie in Positionen eingesetzt, für die sie – laut Meinung der Ippen-Recherche – nicht geeignet waren. Ippen behauptet außerdem, diese Vorteile seien meist mit einem sexuellen Verhältnis mit dem Ex-BILD Chef verbunden gewesen. Eine Kollegin soll so sehr gelitten haben, dass psychiatrische Behandlung indiziert gewesen sei – doch diese Behauptung steht, wie die meisten anderen, mehr oder minder unbelegt im Raum. Julian Reichelt schweigt bislang zu den Vorwürfen, sicher aus taktischen Gründen.
Julian Reichelt schlägt zurück – auf Telegram. Oder doch nicht?
Reden ist silber, Schweigen ist gold – wer nach diesem Motto vorgeht fährt vermutlich im Hinblick auf derartige Vorwürfe meist am besten. Man täte gut daran, die Vorwürfe aufzuarbeiten, in Zusammenarbeit mit Experten und Rechtsanwälten, die ihr Werk gelernt haben. Ein öffentliches Statement ohne rechtliche Absicherung und Rücksprache mit einem Fachanwalt kann schnell nach hinten losgehen. Doch in den frühen Morgenstunden des Dienstags tauche ein Telegram-Kanal auf, der den Namen „Julian Reichelt Official“ trug. Um 0:30 Uhr wurde die erste Nachricht verbreitet: „Hab es mir zwar selbst anders vorgestellt, aber dann Rollen wir den Laden jetzt halt von hinten auf. Wer meint ich würde mein Maul halten, so wie alle anderen, der hat sich stark geirrt“. Zugegeben, das klingt erstmal nach Reichelt.
Telegram-Kanal verweist auf Boris Reitschusters Berichterstattung
Am Dienstagvormittag war der Kanal bereits auf etwa 2000 Abonnenten angewachsen, eine weitere Nachricht wurde im Kanal veröffentlicht. Verlinkt wurde ein Rumble Video des freien Journalisten Boris Reitschuster, der sich in dem Video zum Rauswurf Reichelts äußerte, und ihm darin auch ein Jobangebot unterbreitete. „Danke Boris. Das Stellenangebot werde ich erstmal nicht annehmen können. Vielleicht sollten wir uns demnächst nach der langen Zeit aber mal wieder auf einen Kaffee treffen“, so der Wortlaut der Nachricht im vermeintlichen Reichelt Telegram-Kanal um 10:55 Uhr vormittags. Und es folgten weitere Nachrichten. Um 11:08 distanzierte sich der Kanal pauschal von Querdenken und weiteren Einzelpersonen. „Um es einmalig Klarzustellen: Ich distanziere mich ausdrücklich von Personen wie Attila Hildmann und Organisationen wie Querdenken 711. Warum ich mich von Attila Hildmann distanziere, sollte jedem Demokraten klar sein. Menschen wie Ballweg geht es leider nur ums Geld, anstatt die wirklichen Missstände in unserer Gesellschaft zu kritisieren. Leider zu Lasten vieler Menschen, die Hoffnung in diese Organisation gesteckt haben. Diesen Menschen und der Bewegung die entstanden ist, muss endlich Gehör geschenkt werden. Und das unabhängig von jeglichen Spendensummen, denn Wahrheit sollte niemals etwas kosten und niemand sollte sich an der Wahrheit persönlich bereichern dürfen“.
Zahlreiche Interviewanfragen – im Posteingang aber immer derselbe Betreff
In sozialen Medien äußerten viele Nutzer ihren Unmut über den Rauswurf Reichelts bei der BILD. Insbesondere unter Kritikern der Zwangsmaßnahmen war der Journalist sehr beliebt. Dem Boykott Aufruf, die BILD nicht mehr zu lesen und Abos zu kündigen, wollte der vermeintliche Reichelt jedoch nicht folgen. „Auch wenn hier nun einige die Bild jetzt kritisch sehen (oder auch schon immer kritisch gesehen haben), werde ich dieses Medium nicht boykottieren. Schon lange vor meiner Zeit als Chefredakteur habe ich dort unter den Kollegen viele echte Freunde gewonnen. Freunde die dort auch weiterhin einen super Job machen werden und sich von nichts und niemanden etwas einreden lassen. Ich hege also keinen Groll gegen die Bild. Vom Axel Springer Verlag, der sich nicht zum ersten Mal von äußeren Faktoren beeinflussen lassen hat, kann ich selbiges leider nicht behaupten“, teilte der Telegram-Kanal am Dienstagvormittag um 11:51 Uhr mit. Wenige Minuten später veröffentliche der Kanal außerdem einen Screenshot-Ausschnitt aus einem E-Mail Posteingang, darauf zu sehen: Zahlreiche eingegangene E-Mails, jedoch alle mit dem identischen Betreff „Interviewanfrage“.
Täuschung fast perfekt: Fake-Sprachmemo aus einem Reichelt-Interview
Am frühen Dienstagabend dann folgten dem Kanal bereits über 40.000 Telegram-Nutzer. Abermals meldete sich der Inhaber zu Wort, diesmal sogar per Sprachmemo. Vermeintlich Julian Reichelt selbst spricht über den Ausdruck „Hetzer“, mit dem er beleidigt wurde, und dass dies eines der wenigen Worte sei, die ihn durchaus treffen. Doch schnell war klar: Ja, das war Reichtelts Stimme. Aber der exakte O-Ton der Sprachmemo entsprach zu 100 Prozent und identisch dem Wortlaut Reichelts in einem Interview aus der vergangenen Zeit. Das Video ist auf YouTube verfügbar und kann hier abgerufen werden. Zahlreiche Nutzer in sozialen Medien und einige Journalisten erkannten diesen Zusammenhang sehr schnell. Spätestens jetzt war klar: Das Ganze ist ein mittlerweile äußerst großer und bedauerlicherweise sehr erfolgreicher Fake, denn 52.000 Telegram-Nutzer abonnierten den Account zwischenzeitlich.
Anonymous Netzaktivisten bekennen sich zu Account
Um 21:58 Uhr folge dann die Auflösung: Hinter dem Account, der zwischenzeitlich ohnehin als Fälschung enttarnt wurde, stecken Netzaktivisten rund um die Gruppierung „Anonymous“. Dabei handelt es sich um anonyme Hacker, die alleine oder in losen Gruppierungen agieren. Anonymous wurde niemals aktiv gegründet, auch einzelne Aktivisten kennen die Namen und Identitäten der anderen meist nicht. Es gibt keinen Anführer, keine Hierarchie. Jeder, der die technischen Voraussetzungen mitbringt, kann sich mit einbringen, kommuniziert wird meist über verschlüsselte Chats und soziale Netzwerke.
„Wow. Mehr als 52.000 Abonennten in weniger als 24 Stunden. Einzelne Beiträge wurden sogar mehr als 100.000 mal angesehen.
Als wir (Anonymous) den Kanal hier in der letzten Nacht erstellt haben, hatten wir niemals damit gerechnet, dass der so dermaßen durch die Decke geht. Das macht Telegram in unseren Augen noch besorgniserregender als wir bisher annahmen.
Auch wenn es einige in der „Coronakritischen Szene“ gab, die in diesem Kanal schnell einen Fake vermutet haben, hat sich die offensichtliche Falschmeldung: „Der große Julian Reichelt ist jetzt einer von uns“ schneller und effektiver verbreitet, als die offensichtlichen Beweise, dass es sich hierbei um einen Fake handelt.
Zum einen, weil eben die „Gurus“ wie Boris Reitschuster, Eva Rosen, Eva Herman, Dave Brych, Henning Rosenbusch & Co. solche „Sensationsmeldungen“ eben schneller verbreiten und wenn überhaupt erst im Nachhinein hinterfragen.
Zum anderen, weil es in den verschiedenen Telegram Gruppen (wo es teilweise mehr als 100 Beiträge pro Minute gibt) so schnell verbreitet wird, dass es für einen normalen Nutzer sehr schwierig wird überhaupt noch zwischen Wahrheit und Fake zu filtern. Das führt dazu, dass man einfach alles glaubt, was einem gerade am besten in den Kram passt.
Viele, die diesem Kanal folgen und ihn beworben haben, behaupten von sich, alles kritisch zu hinterfragen. Ihr habt aber rein gar nichts hinterfragt. Ihr folgt mittlerweile einfach allem, was man euch auftischt, solange es euch schmeckt. Kritisches Hinterfragen fängt in den eigenen Reihen an! Das die oben aufgezählten Akteure dabei wirklich keine Hilfe sind und deswegen umso mehr kritisch hinterfragt werden sollten, haben wir mit diesem Experiment unbestreitbar beweisen können.
Btw. auch wir hinterfragen „unsere Bubble“ kritisch. So ist uns auch aufgefallen, dass es Menschen aus unserer Bubble gab, die bis zum Schluss öffentlichkeitswirksam diesen Kanal verbreitet haben (z.B. auf Twitter). Auch hier gilt es vorher alle Fakten zu prüfen und zu verifizieren, anstatt „der/die Erste“ sein zu wollen, die diese „vermeintliche“ Sensation verbreitet.
Es gab aber auch durchaus Menschen die diesen Fake ganz schnell (faktenbasiert) erkannt haben und öffentlichkeitswirksam darauf aufmerksam gemacht haben. U.a. der in der Querdenkenszene eher unbeliebte Journalist Lars Wienand oder CeMAS. Hättet Ihr ausgerechnet auf jene gehört die von euch als „Lügenpresse“ abgestempelt werden, so wärt ihr davor bewahrt worden, auf diesen Fake hier reinzufallen. Lustiges Paradoxon, wenn es nicht so traurig wäre…
Und nun ein paar Worte direkt an Julian Reichelt:
Hey Julian,
Das hier ist u.a. auch das, was DU und andere mit der Bild erreicht haben. Du hast erfolgreich auf den vorhandenen Keil in der Gesellschaft eingeschlagen und diese mehr und mehr gespalten. Du und die Bild (und auch einige andere Medien) seid Teil des Problems.
Dennoch würden wir dir anbieten, dass du diesen followerstarken Account übernimmst. Wir knobeln grad noch aus, wer im Gegenzug dafür „deinen Körper spüren“ darf ?
Wir sind Anonymous.
Wir sind Legion.
Wir vergeben nicht.
Wir vergessen nicht.
Erwartet uns.
Alles hinterfragen!
Am Ende steht fest, Julian Reichelt tut das, was ihm wohl jeder in dieser Situation empfehlen würde: Abwarten und Tee trinken, vor erst schweigen. Vermutlich sind Rechtsanwälte mit ihm gemeinsam daran, die Sache aufzuarbeiten, ein öffentliches Statement ohne vorherige Absprache mit Experten ist in dieser Situation ohne Frage fehl am Platz. Was Anonymous mit dieser dennoch äußerst fragwürdigen Aktion erreichte war jedenfalls eines: Bewusstsein schaffen. Bewusstsein dafür, Dinge zu hinterfragen. Bewusstsein dafür, nicht alles zu glauben, was uns aufgetischt wird. Und am Ende auch Bewusstsein dafür, dass nicht immer alles so ist, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Tragischerweise mussten das gestern auch geschätzte Kollegen wie Boris Reitschuster und weitere feststellen, die der Fälschung aus der Euphorie heraus zunächst „auf den Leim“ gingen. Die Zeit und Ermittlungen werden zeigen, was an den Vorwürfen gegenüber Reichelt tatsächlich dran ist, oder ob es sich hierbei wirklich um einen besonders dreisten Versuch handelt, „unliebsame Journalisten“ und Regierungskritiker zum Schweigen zu bringen.
Wirklich anonyme Hacker?
Ein Satz im Manifest des angeblichen Anonymous-Aktivisten lässt aufhorchen: „Das macht Telegram in unseren Augen noch besorgniserregender als wir bisher annahmen.„ Es kann sich auch um eine geplante Aktion von Geheimdiensten handeln, um Telegram in den Augen der Menschen zu diskreditieren und die Zensurbestrebungen der Regierungen weiter voranzutreiben. Wer könnte Meinungsfreiheit als besorgniserregend einstufen? Anonyme, freiheitsliebende Hacker im Internet – oder dann doch die Regierungen, die eine Agenda in Richtung totale Kontrolle und Diktatur vorantreiben?