Die jüngsten Entwicklungen auf dem europäischen Gasmarkt zeichnen ein beunruhigendes Bild. Während politische Entscheidungsträger noch vor einem Jahr das Ende der Gaskrise verkündeten, zeigt die aktuelle Realität eine andere Situation: Trotz prall gefüllter Speicher bleibt Europa verwundbar.
Die Warnsignale sind deutlich. Vergangene Woche erreichten die europäischen Gas-Referenzpreise ihren Jahreshöchststand, ausgelöst durch einen Produktionsausfall in Norwegen. Der niederländische Title Transfer Facility (TTF) kletterte auf 43,68 Euro pro Megawattstunde – ein Niveau, das seit Dezember 2023 nicht mehr gesehen wurde. Besonders alarmierend: Dieser Preissprung erfolgte trotz der fast vollständig gefüllten europäischen Gasspeicher.
Die Abhängigkeit von norwegischem Gas – aktuell rund 30 Prozent des EU-Bedarfs – zeigt sich als zweischneidiges Schwert. Als der staatliche Energiekonzern Equinor aufgrund eines Rauchmelderalarms die Produktion an einer wichtigen Plattform einstellen musste, reagierten die Märkte sofort nervös. Zwar versicherte Equinor, dass die Exportverpflichtungen nicht gefährdet seien, doch der Vorfall offenbart die fragile Natur der europäischen Versorgungssicherheit.
Die Ironie der Situation liegt in den nach wie vor bedeutenden russischen Gaslieferungen. Trotz aller Sanktionsrhetorik bleibt Russland der zweitgrößte Gaslieferant der EU. Die offiziellen Zahlen sprechen eine klare Sprache: Der russische Anteil an den EU-Gasimporten sank von 45 Prozent im Jahr 2021 auf immer noch beachtliche 18 Prozent bis Juni 2024. Das übertrifft sogar die viel gepriesenen US-Lieferungen.
Die EU-Kommission versucht, die erzwungene Reduzierung der Nachfrage von 138 Milliarden Kubikmetern zwischen August 2022 und Mai 2024 als Erfolgsgeschichte zu verkaufen. Doch der Preis dieser „Erfolgsgeschichte“ ist hoch: Unternehmen müssen aufgrund explodierender Energiekosten schließen, die industrielle Basis Europas erodiert.
Verschärfend kommt hinzu, dass die Ukraine angekündigt hat, den Gastransitvertrag mit Russland nicht zu verlängern. Diese Pipeline ist – neben Flüssiggas – der letzte verbliebene Transportweg für russisches Gas in die EU. Zwar laufen Gespräche mit Aserbaidschan über Ersatzlieferungen, doch selbst diese würden nur einen Teil der Lücke füllen können und paradoxerweise ein Swap-Abkommen mit Russland erfordern.
Kim Fustier, Leiterin der europäischen Öl- und Gasforschung bei HSBC, warnt: Die Gasversorgungslage Europas könnte sich 2025 im Vergleich zu 2024 sogar noch verschlechtern. Im schlimmsten Fall droht ein Absinken der Speicherfüllstände auf kritische 30 Prozent – ein deutlicher Kontrast zu den komfortablen 58 Prozent des vergangenen Winters.
Die unbequeme Wahrheit lautet: Europa hat die letzten beiden Winter hauptsächlich dank milder Temperaturen überstanden. Doch auf meteorologisches Glück lässt sich keine nachhaltige Energiesicherheit aufbauen. Die frühen Wetterprognosen für den kommenden Winter stimmen wenig optimistisch. Die viel gepriesene Diversifizierung der Gasversorgung erweist sich als komplexer und langwieriger als gedacht. Neue LNG-Terminals in den USA werden Jahre brauchen, während der globale Wettbewerb um Flüssiggas – insbesondere mit Asien – sich weiter verschärft. Die europäische Gaskrise ist nicht vorbei.