Der Telekommunikationsdienstleister O2 führte Ende 2020 eine großflächige Überwachung seiner Kunden durch: Das Amtsgericht Frankfurt am Main ordnete das sogenannte IP-Catching an, ohne dass eine Rechtsgrundlage für die Maßnahme besteht. Heiligt der Zweck wirklich die Mittel?
Wie Recherchen des ARD-Magazins „Panorama“ und „STRG_F“ erbracht haben sollen, führte der Telefónica-Konzern O2 2020 eine Überwachung der eigenen Kunden durch: Das geschah auf Zuruf des BKA und Anordnung des Amtsgerichts Frankfurt am Main vom 17.12.2020. Hintergrund der Maßnahme waren Ermittlungen gegen die pädokriminelle Darknet-Plattform „Boystown“: O2 sollte das sogenannte IP-Catching anwenden und für bis zu drei Monate überwachen, ob und welche Kunden sich mit dem Server verbinden. Zuvor hatte man einen Tipp aus dem Ausland erhalten, dass der Admin der Plattform sich über einen Telefónica-Mobilfunkanschluss ins Internet einwählte.
Durch das IP-Catching wurde dann der mutmaßliche Betreiber der Pädo-Plattform, Andreas G. aus NRW, identifiziert, der 2022 vom Landgericht Frankfurt am Main u.a. wegen bandenmäßiger Verbreitung kinder- und jugendpornografischer Inhalte zu mehr als zehn Jahren Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt wurde. G. war geständig, kooperierte mit den Ermittlern und ließ die Überwachung durch seinen Mobilfunkanbieter (wohl zum großen Glück der Behörden) juristisch nicht prüfen. Angeblich soll die Überwachung binnen „weniger Tage“ wieder beendet worden sein, weil G. rasch gefasst wurde.
Nun mag man naturgemäß froh sein, wenn gegen Kinderschänder und die Verbreitung von Kinderpornographie vorgegangen wird – doch dieses Vorgehen hatte keine Rechtsgrundlage. Dominik Brodowski, Professor für Digitalisierung des Strafrechts an der Universität des Saarlandes, kommentierte in einem Interview für den ÖRR:
Wohlwollend gesprochen handelt es sich um ein hochgradig kreatives Vorgehen der Ermittlungsbehörden, bei dem verschiedene Eingriffsgrundlagen der Strafprozessordnung munter zusammengewürfelt wurden, was auch in der konkreten Ausgestaltung die Grenzen des rechtlich Zulässigen zumindest ausgereizt, wenn nicht sogar überschritten hat.
Das Amtsgericht hatte kurzerhand beschlossen, dass es zwar eine „unvermeidbare Drittbetroffenheit“ unschuldiger O2-Kunden gäbe, das sei aber egal – die Maßnahme sei aufgrund der Schwere der Straftaten verhältnismäßig. Daher folgte man dem entsprechenden Antrag der Generalstaatsanwaltschaft; Telefónica derweil stellte sich auf den Standpunkt, dass man zur Umsetzung solcher Beschlüsse gesetzlich verpflichtet sei.
Benjamin Lück von der Gesellschaft für Freiheitsrechte bezeichnet die Anwendung des IP-Catchings als „tiefgreifenden Eingriff in die Rechte Unbeteiligter“ und verglich die Maßnahme mit einer „Vorratsdatenspeicherung light“.
Eine Frage, die man sich außerdem stellen muss, ist: Wo gilt dieses Vorgehen wohl als Nächstes als „verhältnismäßig“? Natürlich stört man sich als geistig gesunder Mensch nicht an der Verfolgung von Kinderschändern, doch wenn hier jedes Mittel recht ist, dann kann dieses Überschreiten der „Grenzen des rechtlich Zulässigen“ sich einschleifen – und zukünftig ganz andere „Verbrecher“ treffen. In Zeiten, in denen tatsächliche Strafbarkeit für Regierende keine nennenswerte Rolle mehr spielt und jede Regierungskritik zur „Delegitimierung des Staats“ erhoben werden kann, steuert man mit solchen Maßnahmen eine gefährliche Abwärtsspirale an. Vielleicht liebäugelt das deutsche Innenministerium dann demnächst mit einem IP-Catching durch alle Internet- und Mobilfunkanbieter zur Erfassung von Besuchern der Website des Compact-Magazins? Wer weiß, auf welchen Listen unbescholtene Normalbürger bereits geführt werden – dass sie überwacht wurden und werden, erfahren sie ja gerne erst viele Jahre später.