Immer wieder behaupten die für die Corona-Maßnahmen verantwortlichen Politiker, man sei „gut durch die Pandemie gekommen“. Nicht nur große Teile der Bevölkerung sehen das anders: Auch Juristen wie Grundrechtsanwältin Jessica Hamed widersprechen entschieden. In einer Debatte mit dem zwischenzeitlichen Leiter der Maßnahmen-Evaluierungskommission Stefan Huster erörtert sie das umfassende Versagen des liberalen Rechtsstaats in der sogenannten Pandemie.
Gesamtversagen des Rechtsstaates in der Corona-Krise
Presseaussendung GGI-Initiative
Mit Stefan Huster und Jessica Hamed unterhielten sich unter der Gesprächsleitung von Helmut Fink vom Institut für populärwissenschaftlichen Diskurs zwei deutsche Juristen mit unterschiedlichen Standpunkten im Dezember 2023 über die Rolle der Judikative während der Corona-Krise und deren Aufarbeitung.
Eine Frage des Standpunkts
Die Grundrechtsanwältin Jessica Hamed konstatierte in ihrem Eröffnungsstatement ein gesamtgesellschaftliches Versagen. Weder die Zivilgesellschaft noch die staatlichen Gewalten und auch nicht die Medien hätten sich als krisenfest erwiesen. In Hameds Augen hat der liberale Rechtsstaat in der Krise zur Gänze versagt, es gab keine roten Linien. Die Justiz hätte die Exekutive zur Evaluierung der Maßnahmen auffordern müssen, um deren Verhältnismäßigkeit überprüfen zu können, was aber nicht passiert ist. Ganz im Gegenteil verweigerte der Verfassungsgerichtshof Mainz sogar die Aufhebung von Verordnungen, wie etwa die Maskenpflicht im Freien, über deren Unsinnigkeit vollkommener Konsens herrscht. Noch immer sind darüber Verfahren anhängig. Die Maskenpflicht mit den unterschiedlichen Regelungen in Restaurants oder eben im Freien bezeichnete Hamed als intellektuellen Shutdown, als absolut vernunftwidrig nach dem Motto Glaube statt Evidenz.
Durch die Corona-Maßnahmen mit ihrem verkürzten, binären Denken, mit Angstmache und Druck haben laut Hameds Einschätzung deutlich mehr als 25 Prozent der Bevölkerung das Vertrauen in den Staat, aber auch in die Gesellschaft ganz oder zumindest partiell verloren.
Hamed konstatiert:
„Wir sind richtig schlecht durch die Pandemie gekommen: mit noch nicht abzuschätzenden Kollateralschäden, einer gespaltenen Gesellschaft und irreparablen, nicht erforderlichen Freiheitsverlusten.“
Anders sieht das der zwischenzeitliche Leiter der Maßnahmen-Evaluierungskommission Stefan Huster. Er findet, dass alles nicht so schlimm gewesen sei und die Aufregung übertrieben werde. Es sei mittlerweile wieder alles wie vorher, die Sonderregelungen seien aufgehoben. Politik sei eben Handeln unter Unsicherheit. Man müsse sich an die Experten halten, nicht jeder dürfe mitdiskutieren. Huster ist bemüht, alle Kritik abzuschwächen, argumentiert konziliant, aber oft verharmlosend. Versagt habe weniger das Rechtssystem, sondern mehr die Parlamente, die bereitwillig alle Verantwortung und Entscheidungsbefugnisse an die Regierungen abgaben. Das Rechtssystem könne nicht alle Fehler der Coronapolitik ausmerzen.
Fehler in der Vergangenheit
Hamed meint, dass die Justiz ihrer Verantwortung nicht gerecht geworden ist. Gerichte müssten immer wieder Sachverhalte klären, wo sie keine Expertise haben, können diese aber beauftragen oder einfordern.
Einig sind sich Huster und Hamed, dass die Institutionen resilienter werden müssen, die Beraterstäbe viel zu einseitig besetzt waren und oft unter chaotischen Bedingungen und Zeitvorgaben arbeiten mussten. Huster habe das als Leiter der Evaluationskommission selber erlebt und war nicht selten versucht, alles hinzuschmeißen. Das Infektionsschutzgesetz war nicht für eine Pandemie ausgelegt. Der demokratische Diskurs habe nicht funktioniert, Meinungskorridore seien verengt worden, der Staat habe gezielt Angst geschürt, um die Folgebereitschaft zu erhöhen. Von Alternativlosigkeit sei die Rede gewesen, wobei keine Entscheidung ohne Alternative sei. Es seien auch in der Judikative handwerkliche Fehler passiert. Ein großes Versäumnis sei auch gewesen, dass keine Begleitforschung aufgesetzt worden sei, keine Evaluierungen implementiert wurden.
Aus einer Pandemie per se folge noch nichts, sondern politische Entscheidungen müssten getroffen werden. Und dazu braucht es belastbare Daten, die nicht oder nur unzureichend erhoben wurden. Die berufenen Experten, etwa des Robert Koch Instituts (RKI), seien nicht sakrosankt. Obwohl die Datenlage so miserabel war, bildete sie trotzdem die Grundlage für Empfehlungen des RKI, auf die sich die Gerichte noch immer berufen. Kollateralschäden wurden hingenommen und in den Entscheidungen nicht berücksichtigt, eine Polarisierung der Gesellschaft wurde in Kauf genommen. Es wurde mit vielen Kampfbegriffen Propaganda und Framing betrieben. Die Medien haben größtenteils ihre Kontrollfunktion nicht erfüllt.
Hamed spricht von einem allgemeinen Lebensrisiko, dem jeder ausgesetzt sei. Wenn es ausreichend Schutzmöglichkeiten gebe, wie Medikamente oder Schutzmasken und das Gesundheitssystem nicht überlastet sei, habe sich der Staat aus dem Leben seiner Bürger herauszuhalten. Gesundheit sei nicht das höchste Gut. Man könne Menschen nicht nach ihrem Gesundheitsstatus klassifizieren. Bei jedem zehnten Toten in Deutschland sei etwa Übergewicht die Ursache. Es gebe auch so etwas wie ein soziokulturelles Existenzminimum, d.h. dass den Menschen ein gewisser Grad an sozialer Teilhabe ermöglicht werden muss. Die Ausgrenzungen durch die 2 G-Regelungen waren wegen des nicht vorhandenen Fremdschutzes durch die Impfung niemals gerechtfertigt.
Herausforderungen für die Zukunft
„Ist die Ausbildung gut genug, um resiliente Juristen hervorzubringen?“, fragt sich Hamed. Sie meint, es müsse einen systemischen Unterbau geben, um die Schwächen der Menschen abzufedern und empfiehlt der Justiz einen institutionalisierten Advocatus Diaboli – ein Gremium, in dem einer der Richter bewusst die Position der Gegenseite einnimmt.
Als Zeichen der Versöhnung empfiehlt sie, in anhängigen Verfahren für Ordnungswidrigkeiten, die unstrittig sind, die Strafen zurücknehmen bzw. die Verfahren einzustellen und Bußgeldbescheide aufzuheben.
Zukünftig müssen Gremien und Institutionen ausgeglichen und unpolitisch besetzt sein und deren Aufgaben und Zuständigkeiten klar geregelt werden.
Das Infektionsschutzgesetz gehört überarbeitet.
Aber das Wichtigste sei eine offene, interdisziplinäre Debattenkultur, wo Standpunkte ausgetauscht und objektiv bewertet werden, wo Inhalte diskutiert und nicht Personen diffamiert werden.
Fazit
Es ist positiv zu werten, dass die “beiden Lager” nun endlich beginnen miteinander zu reden – nur so kann Aufarbeitung funktionieren. Doch es braucht mehr Mut zur Einsicht und Selbstreflexion. Von längst widerlegten Narrativen sollte man sich endgültig verabschieden.
Die Fehler der Vergangenheit dürfen sich keinesfalls wiederholen – in keinem Bereich.
Quelle:
Humanistischer Salon, Kortizes (Institut für populärwissenschaftlichen Diskurs): „Vom Einfluss der Debattenkultur in Deutschland“, 2023, online: https://www.youtube.com/watch?v=28pQjlgZX6s